Während dieser Artikel vor meinem inneren Auge Gestalt annimmt, wüten in vielen Wäldern noch immer die Feuer, brennt die „grüne Lunge“ der Erde, der Amazonasregenwald, in weiten Teilen. Aber auch in anderen Teilen der Erde brennt der Wald, etwa in der Taiga in Russland oder Kanada und auch weite Flächen in Afrika stehen, von der Weltöffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen, in Flammen. Ganz zu schweigen von den riesigen australischen Buschfeuern.
Der Wald gilt vielen Naturvölkern als heilig, als die „Mutter allen Lebens“, dennoch führen wir Menschen tagtäglich einen Krieg, der die Wälder in weiten Gebieten der Erde immer kleiner werden und schließlich verschwinden lässt. Oder aber wir schauen dabei einfach tatenlos zu! Denn die Wenigsten von uns sind ja aktiv an der Zerstörung beteiligt. Und dennoch haben wir, durch unseren Lebensstil, fast alle damit zu tun.
Buddha spricht von den drei „Geistesgiften“ Gier, Hass und Ignoranz, die die Welt und besonders uns Menschen umtreiben. Immer noch mehr wollen, wo wir bereits so viel haben! Uns gegen die wenden, die unsere Gier in Frage stellen! Wegschauen und nicht wahrhaben wollen, was doch so offensichtlich passiert!
Viele von uns entdecken den Wald gerade wieder neu für sich! Waldbaden, das geheime Leben der Bäume, die Heilkraft des Waldes, Regale voller neuer Waldbücher kommen gerade auf den Markt. Denn obwohl wir ja in einem Land voller Wald leben, erlebt er gerade jetzt eine Renaissance. Was liegt also näher als dem Wald nicht nur unser neu erwachtes Interesse, sondern auch unser Mitgefühl zu widmen.
Der Dichter und Zen Meister Thích Nhất Hạnh sagte einmal in etwa folgendes:
„Was unsere Zeit am Dringendsten braucht, ist dass wir Menschen in uns hinein lauschen und dort die Erde weinen hören“.
Aber, seien wir doch ehrlich zu uns selbst, wer will das denn nun schon wirklich? Sich aktiv und freiwillig in einen Bewusstseinszustand begeben, der uns öffnet und empfänglich macht für den ganzen Schlamassel, der da um uns herum jeden Tag stattfindet.
Viele von uns gehen einen buddhistischen Weg. Im tibetischen Buddhismus gibt es die Übung des Tonglen, eine Meditation zur Vertiefung von Mitgefühl und Empathie. Die Leiden der Anderen, ja der ganzen Welt, aufnehmen, um sie in Heilsames umzuwandeln. Anderen Glück schenken. Und dabei selbst Glück erfahren.
Niemals zuvor war dies vielleicht für unser aller Überleben so wichtig wie zu unserer Zeit. Niemals zuvor gab es so viele Menschen auf der Erde, niemals zuvor wurden so viele Arten ausgelöscht und Lebensräume zerstört, niemals zuvor gab es so viele Flüchtlinge, Vertriebene, Hungernde, Verhungernde, niemals zuvor wurden unzählige Tiere unter unwürdigen Bedingungen gehalten und gequält. Niemals zuvor wurde so viel Wald vernichtet!
Aber wie sollen wir etwas verändern, wenn wir es zwar wissen, es uns aber emotional gar nicht mehr wirklich erreicht, weil es einfach viel zu viel ist, und wir dicht machen? Wie sollen wir uns dafür öffnen, wenn wir ahnen, es würde uns überwältigen, einfach wegspülen, zusammenbrechen lassen?
Krieger und Kriegerinnen sind gefragt!
Die Geliebte des Kriegers ist die Erde. Für ihn kann es keine größere Liebe geben“, sagte Don Juan einst zu seinem Schüler Carlos Castaneda. Es sei dahingestellt, ob Don Juan nun eine authentische Gestalt oder Erfindung Castanedas ist, die Liebe zur Erde aber ist Teil des Glaubenssystems nahezu aller Naturvölker. Liebe findet im Herzen statt und kann nicht intellektuell erdacht werden, sondern wächst im Inneren aus authentischem Erleben. Würden genügend von uns die Erde wirklich lieben, hätten wir all die Probleme nicht, die wir heute haben.
Wie aber die Liebe zur Erde (wieder)finden?
Liebe entsteht über die bewusste Wahrnehmung eines Gegenübers. Aussehen, Körpersprache, Geruch, Ideale – immer verlieben uns in einen anderen Menschen, weil wir ihn schön und attraktiv finden oder zumindest bestimmte Eigenschaften an ihm sehr mögen und schätzen. Wie aber sich in die Erde verlieben, wenn wir zwischen grauem Beton, in Häuserschluchten oder langweiligen Vorstädten, in Lärm, Hektik oder Stau unseren Alltag verbringen? Naturvölker hatten es da einfacher, denn sie lebten meist in der unberührten Schönheit der Wildnis. Wie ungleich schwerer ist es da für uns? Und dennoch ist die Erde immer da, ist ihre Kraft allgegenwärtig, wenn wir nur wissen, wie wir uns dafür öffnen können. Denn die Erde ist ein lebendiges Wesen, welches sich und uns immer aufs Neue zu heilen versucht.
Zerstören wir ein Ökosystem und verletzen die Erde an einer Stelle, tragen etwa die Vegetation ab, setzt der unmittelbare Prozess der Wundheilung auch schon ein und die Erde bemüht sich, den natürlichen Zustand wieder herzustellen, ganz wie das auch unser Körper bei einer Verletzung tut. Erste Pionierpflanzen, etwa Brennnesseln, Brombeeren und schon bald erste Bäume wie Weiden oder Birken stellen sich ein und schließen die Wunde in der Landschaft. Die Kraft der Erde ist immer da, auch wenn wir dies, vor allem wenn wir in der Stadt leben, oft nur noch in kleinen Details erfahren. Eine kleine Pflanze, die zwischen Pflastersteinen wächst, der Gesang der Vögel am frühen Morgen, die verfärbenden Bäume im herbstlichen Stadtpark, ein Regenbogen vielleicht. Diese Dinge bemerken wir oft nur – wenn wir achtsam sind.
Wo diese lebendige Kraft jedoch am deutlichsten zu spüren ist, ist im Wald, unserem naturnahesten Ökosystem (denn natürlich sind auch unsere Wälder keine ursprünglichen Wälder mehr, sondern menschengemachte Landschaften, die dem Ursprünglichen aber oft noch recht nahe kommen können). Was also liegt näher, als Achtsamkeit im Wald zu üben!
Buddha erlangte seine Erleuchtung im Wald
und verbrachte auch danach die meiste Zeit seines weiteren Lebens dort. Ein zentraler Aspekt seiner Lehre handelt von Achtsamkeit. Und auch heute noch verbringen zahlreiche buddhistische Mönche in Südostasien und Japan Jahre ihrer Ausbildung im Wald, um dort Achtsamkeit zu üben. Achtsamkeit ist der Schlüssel, um mit der Erde und der uns umgebenden Natur wieder in Kontakt zu treten und zurück zu finden in die Gemeinschaft des Lebens.
Der bekannte amerikanische Naturlehrer Joseph Cornell machte einmal bei einem seiner Seminare einen Test. Zusammen mit einer Gruppe von Teilnehmern stand er am Rande des Grand Canyons, einer nun wirklich spektakulären Landschaft. Er bat seine Teilnehmer, sich ganz auf die Schönheit des Ausblicks einzulassen – und wenn sie merkten, dass sie sich, statt zu schauen und zu staunen, schon wieder in ihrem Denken verloren hätten, die Hand zu heben. Schon nach ein paar Sekunden war die eine Hand eines jeden Teilnehmers in der Luft!
Wollen wir Achtsamkeit erlernen, so gilt es, Wege zu finden, mit unserem immer präsenten Denken neu umzugehen. Dabei ist Denken keineswegs grundsätzlich falsch oder gar eine Fehlevolution. Es ist ein wunderbares Werkzeug, um die verschiedensten Aufgaben zu lösen, kreativ zu sein, komplizierte Werke zu erschaffen. Aber es ist auch wie ein Radio, bei dem der Ausschaltknopf fehlt!
Achtsamkeitsschulung lehrt uns, unser Denken zunächst zu beobachten. Gedanken tauchen auf, entwickeln sich weiter, nehmen neue Richtungen an, verschwinden wieder – neue Gedanken tauchen auf. Wie Treibholz auf einem dahinfließenden Fluss können wir unseren Gedanken und auch den damit verbundenen Emotionen dabei zuschauen, wie sie auftauchen, vorbeiziehen, wieder verschwinden. Wenn wir dies eine Weile machen, können wir feststellen, dass es da noch etwas anderes in uns gibt. Den Beobachter! Die Instanz in uns, die dem Treiben der Gedanken und Emotionen zuschauen kann. Den, der nicht beobachtet werden kann, weil er eben der ist, der alles beobachtet, wahrnimmt, und dabei in der Stille dahinter ruht.
Es gibt noch einen anderen Weg, Achtsamkeit zu üben, und der lässt sich besonders gut draußen in der Natur erlernen. Wie schon der kleine Test von Joseph Cornell gezeigt hat, setzt das Denken dann sehr schnell wieder ein, wenn unsere Aufmerksamkeit auf eine Sache, etwa unsere Wahrnehmung, nachlässt. Lernen wir nun, unsere Wahrnehmung schweifen zu lassen, also fortwährend unsere Aufmerksamkeit einem neuen Objekt zuzuwenden, können wir den Prozess der inneren Stille und der damit verbundenen Achtsamkeit immer mehr in die Länge dehnen.
Wo aber können wir dies besser üben als im Wald? Die Eindrücke hier sind endlos, die Möglichkeiten, unsere aufmerksame Wahrnehmung immer wieder auf etwas Neues zu richten, ebenso. Da gibt es verschiedene Bäume, Rinden, das Spiel des Lichtes, Ameisen am Boden, Vogelgesang, das Rauschen des Windes. Und plötzlich merken wir, dass wir für eine recht lange Zeit einfach nur hier waren – im JETZT! Natürlich setzt das Denken wieder ein, aber wir können die Übung ja beliebig fortsetzen.
Im Darmstädter Wald gibt es einen Ort, der sich neben anderen Themen der Achtsamkeitsschulung verschrieben hat. Das Zentrum für Globale Nachhaltigkeit Darmstadt. Hier üben wir Achtsamkeit bei stillen Waldspaziergängen, aber auch beim Erlernen komplexer Bewegungsabläufe, etwa beim Bogenschießen. Und natürlich auch bei der Sitzmeditation. Es geht hier aber nicht darum, Achtsamkeit ausschließlich zur Steigerung des eigenen Wohlbefindens und für die eigene persönliche Entwicklung zu erlernen, auch wenn sich dieser Effekt unweigerlich einstellt. Vielmehr üben wir Achtsamkeit, um uns für die Natur, die Erde und alles Leben zu öffnen, um uns zu erden und wieder einzugliedern in das kosmische Netz des wechselseitig verbundenen Lebens. Und auch das wird passieren, wenn wir für eine Weile draußen in der Natur üben.
Wer will, kann dann weitergehen, denn die Erde braucht unsere Hilfe! Im Zentrum gibt es hierzu verschiedene Angebote. Der weltweite Schutz der Wälder ist ein zentrales Thema. Über eine mit dem Zentrum verbundene Stiftung werden Projekte für Menschen, Wälder und Wildtiere in Afrika umgesetzt. Eine Unterstützergruppe für indigene Völker, die Hüter der Erde, ist im Aufbau.
Wer dabei sein möchte findet weitere Infos auf:
www.zentrum-globale-nachhaltigkeit.de
Klaus D. Berger
Natur- und Achtsamkeitstherapeut und Naturpädagoge. Leiter des Zentrum für Globale Nachhaltigkeit Darmstadt und der Schule Wildnisweisheit. Seit mehr als 40 Jahren Erfahrung und Praxis in Buddhismus. Hat viele Jahre seines Lebens in verschiedensten Wildnis-Regionen Europas, Nordamerikas, Asiens, Neuseelands und Afrikas verbracht. Seit vielen Jahrzehnten engagiert im Waldschutz und für indigene Völker. Lebt und arbeitet Teile des Jahres in Kenia zu Koexistenz von Menschen und Wildtieren.
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