Das Wort Achtsamkeit ist mittlerweile in fast allen spirituellen Richtungen zu finden und wird meist als eigenständiger Begriff behandelt. Manche betonen, dass man das „Religiöse“ herausgelassen habe, um Achtsamkeit in reiner Form zu präsentieren.
Aber doch wird eingeräumt: Es ist ein buddhistischer Begriff, hat etwas mit Meditation zu tun, auch mit der buddhistischen Lehre und deren Kernaussagen. Man sollte also verstehen, dass der Begriff „Achtsamkeit“ und die damit verbundenen Übungen und Meditationen aus dem Buddhismus kommen, dass sie gelehrt wurden, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen und dass sie im Kontext mit einer Lehre und einem Übungsweg stehen.
Zweifelsohne sind alle, die das hier lesen, als Mensch geboren worden und haben bis hierher einen bestimmten Lebensweg zurückgelegt. Du hast Freude und Leid in all seinen Ausprägungen und Lebensabschnitten erlebt, und die Hintergrundmelodie, die in allen Ereignissen und Erfahrungen mitschwang, war und ist das Gesetz der Unbeständigkeit.
Allein wegen dieses Gesetzes der Unbeständigkeit kam ein Mann namens Siddharta Gotama, der spätere Buddha, vor zirka 2600 Jahren auf die Idee, sich auf den Weg zu machen, um einen Ausweg aus diesem vergänglichen Dilemma zu finden. In einer heilen Welt lebend, genoss er als Prinz alles erdenklich Gute seiner Zeit. Eines Tages wollte er wissen, was es außerhalb seiner Palastmauern noch gab. Während eines Ausflugs begegnete er Alter, Krankheit und Tod und sah Asketen, die sich zum Ziel setzten, Antworten auf die großen Fragen des Lebens zu finden. Buddha selbst schlussfolgerte dann, dass alle seine Annehmlichkeiten, sein Reichtum, seine Gesundheit keine Garantie auf Fortbestand gewährleisten und mit 29 Jahren machte er sich dann auf den Weg, um eine Lösung für das Problem „Vergänglichkeit“ und „Leid“ zu finden.
Eine Beobachtung vorweg
Aber geht es uns nicht ähnlich? Haben unsere Annehmlichkeiten, unser Wohlstand, unsere Gesundheit etwa Garantie auf Fortbestand? Und wie ist es mit dem inneren Erleben?
Wenn wir auf uns selbst schauen, entdecken wir eine Menge Kräfte in uns. Wie das Wollen, den Ärger, die Freude, die Großzügigkeit. Manchmal Sorgen und Ängste, Zweifel und Hadern, Zufriedenheit und Hoffnung und all die Gedanken und Gefühle, die sich ständig einstellen. Dann erleben wir den Alltag mit all seinen Herausforderungen und all diesen Kräften. Wir erleben, dass sich Dinge um uns herum ständig verändern und wandeln, dass sich Dinge in uns ständig verändern und wandeln. Und wenn wir diesen Gedanken mutig weiterdenken, müssen wir uns tatsächlich eingestehen, dass nichts bleibt, wie es ist und wir eines Tages sogar sterben müssen.
Das sind alles knallharte Fakten unseres Lebens, an denen wir nichts ändern können. Das einzige, was wir ändern können, ist die Haltung dazu. Manchmal stellen sich Menschen Fragen nach dem Sinn und Zweck des Lebens: „Was ist wirklich wichtig und wertvoll in meinem Leben?“ „Wo ist meine Freude und wo meine Kraft?“ „Was suche ich wirklich und wer bin ich eigentlich?“
Ist nicht das meiste Tun darauf ausgerichtet, um Freude zu fühlen und Verbundenheit zu erleben? Oft benutzen wir Umwege wie materiellen Erfolg, die Anerkennung anderer, ein Tun im Außen, um das zu erleben. Aber vielleicht ist Freude zu erleben und Verbundenheit zu fühlen ganz einfach, indem man sich zum Beispiel an einer Blume erfreut oder einem anderen Menschen sagt, wie wertvoll und wichtig sie oder er für mich ist.
Hier kommt die Achtsamkeit ins Spiel
„Achtsamkeit ist ein aufmerksames Beobachten, ein Gewahrsein, das völlig frei von Motiven oder Wünschen ist, ein Beobachten ohne jegliche Interpretation oder Verzerrung.“ (Krishnamurti)
Können wir nicht Folgendes beobachten: Alle Gedanken oder Gefühle, die wir allein nur heute hatten, kamen, aber sie gingen auch wieder, und trotzdem gibt es uns immer noch. Wenn man das eine Weile beobachtet, kommen wir vielleicht zu der inneren Gewissheit und Überzeugung: „Ich habe alle diese Gedanken und Gefühle, aber ich bin sie nicht!“
Wenn wir das mit Achtsamkeit deutlich sehen, wird das Leben leichter, weil wir uns mit den geistigen Inhalten nicht mehr allzu sehr identifizieren, und wir finden schnell wieder zu unserem „Hiersein“, zu unserer Mitte, zurück.
Und hier wird deutlich, welchen Nutzen die Achtsamkeit hat: Sie fördert die Fähigkeit, sich gezielte Auszeiten vom Alltag zu nehmen und mit Gefühlen und Gedanken umzugehen. Weiterhin fällt es uns leichter, uns zu entspannen und Stresssituationen besser zu bewältigen. Das Üben der Achtsamkeit bringt mehr Energie und Lebensfreude und Freundlichkeit für sich selbst und andere in den Alltag. Einsichten in Themen deines Lebens können sich einstellen und der Raum der Inneren Weisheit kann sich öffnen.
Auf Grund der Erfahrungen und Erlebnisse, die das Leben einem Wohl oder Übel immer wieder anbietet, erforscht man mit Achtsamkeit das Leben und dessen Ereignisse unter drei Gesichtspunkten: dem der Vergänglichkeit, der innewohnenden Leidhaftigkeit, die entsteht, wenn wir an Dingen festhalten, und der Substanzlosigkeit aller Dinge. Wobei letzteres mittlerweile von der westlichen Wissenschaft bestätigt wurde; denn es wurde noch immer nicht der „Baustein des Universums“ gefunden.
Diese drei Gesichtspunkte können auf alle bedingt entstandenen Erscheinungen angewendet werden. Wenn wir das grundlegend verstehen und wir sehen, wie die Dinge wirklich sind, entsteht die Weisheit, die einen angemessenen Blick auf die Dinge dieser Welt ermöglicht. Es ist eine Einladung, mehr zu beobachten und weniger zu bewerten.
Natürlich werden weiterhin alte Gewohnheiten wie impulsives, instinktgesteuertes Reagieren noch erlebt – na und? Erinnere dich bitte daran, dass du diese Kräfte nur hast, aber sie nicht bist. Vielleicht bringt dich die Achtsamkeit in das Erleben dieses einen Moments, du siehst deine Liebsten mit neuen Augen, spürst die Verbundenheit zu ihnen, erlebst eine Freude, die nichts braucht außer sich selbst, und du übst dich immer mehr in der Fähigkeit, die Dinge gehen zu lassen, die sich von dir verabschieden.
Matthias Dhammavaro Jordan ist Heilpraktiker für Psychotherapie, Meditationslehrer, Buch-Autor und Hospiz-Helfer. Von 1989 bis 2001 lebte er als buddhistischer Mönch in Thailand. Heute leitet er Seminare zur Meditation und Achtsamkeit, hat mittlerweile drei Bücher und ein Set mit 56 Karten der Achtsamkeit veröffentlicht. Das jüngste Buch ist im Dezember 2019 erschienen.
Matthias Dhammavaro Jordan
Karten der Achtsamkeit
56 Karten mit Begleitbuch, 19,95 Euro
Die Karten der Achtsamkeit erinnern daran, in der Geschäftigkeit des Alltags innezuhalten, zu entspannen und für ein paar Momente nichts zu tun, sondern einfach nur zu sein und wahrzunehmen, was um Sie herum geschieht. Wenn Sie sich in Gedanken, Gefühlen oder Geschichten verloren haben, lädt eine der Karten Sie zu einer Betrachtung ein, gibt einen Hinweis oder stellt eine Frage. Sie unterstützt Sie dabei, sich neu auszurichten, innezuhalten, zu entspannen und dann tun Sie einfach wieder das, was getan werden muss.
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