Das Zitat: „Die Schwerkraft ist die Wurzel aller Anmut“, begleitet mich schon über zwanzig Jahre lang. Wobei sich mir die Essenz, die diesem weisen Zitat zu Grund liegt, schon Jahre zuvor in einer tiefgreifenden Erfahrung offenbarte.
Bei meinem Aufenthalt in Asien wurde mir die Erfahrung zuteil, mit welcher Anmut ein Mensch einerseits im Körper ruhen, andererseits sich damit fortbewegen kann. Zudem erlebte ich dort unter Anleitung eines asiatischen Tai-Chi-Meisters das erste Mal, wie es sich anfühlt, wenn die Schwerkraft durch die ihr vorgegebene anatomische Achse fällt. Danach war mein Fieber, das ich ein paar Tage zuvor entwickelt hatte, wie weggeblasen. Zudem fühlte ich mich tief in mir verankert und mit allem verbunden.
Natur will Gleichgewicht
Die Natur strebt stets danach, im Gleichgewicht zu sein. Aus Ungleichgewicht resultiert früher oder später Krankheit. Das gilt gleichermaßen für uns Menschen. Der Mensch ist ein komplexes geistiges Wesen. Dieser Aspekt sollte bei der Ursachenfindung eines körperlichen Symptoms stets berücksichtigt werden. Mittlerweile ist es erwiesen, wie sehr sich unsere Gedanken und Gefühle auf das körperliche Wohlbefinden auswirken. Die geistige Verfassung eines Menschen drückt sich über die Körperhaltung aus. Ein depressiver Mensch neigt im Gegensatz zu einem positiv gestimmten Menschen zu einer eingefallenen Haltung. Ein bewusster Mensch übt sich in der Kunst, immer wieder selbstermächtigt zum Gleichgewicht zurückzukehren.
Eine Haltung kann nicht erzwungen werden. Menschen, die versuchen sich krampfhaft gerade zu halten, scheitern meist, weil es irgendwann zu anstrengend wird. Insbesondere dann, wenn die Haltung nicht der inneren Verfassung entspricht. Die körperliche Haltung setzt sich nach meiner Erfahrung durch die Summe aller psychischer und physischer Muster zusammen. Es handelt sich hierbei in seiner Gesamtheit meistens um eine notwendige reaktive Kompensation des Körpers, über die jeglicher abgespeicherte Schmerz ertragbar gemacht wird. Hierbei spielt es keine Rolle, ob der Mensch sich seines Schmerzes bewusst ist oder nicht.
Das Schmerzgedächtnis
Der Körper verfügt über ein Schmerz-Gedächtnis, in dem jede schmerzhafte Erfahrung zellulär abgespeichert ist. Das gilt sowohl für seelischen als auch physisch erlebten Schmerz. Ab dem Zeitpunkt, an dem der Mensch seine kompensatorische Schonhaltung nicht mehr aufrechterhalten kann, führt das zu unterschiedlichsten Symptomen. Im schlimmsten Fall kann es zu ernsthaften Erkrankungen führen. Haltung einzunehmen, geht meines Erachtens mit einer stillen inneren Einkehr einher. Über diesen Weg können die innewohnenden, regulativen, natürlichen Kräfte das Gleichgewicht wieder herstellen. Aus diesen sich neu entfaltenden Kräften kann sich der Mensch erneut auf natürliche Art und Weise aufrichten und fühlt sich getragen. Um dies zu bewerkstelligen, hat sich in meiner Praxis die bewusste Integration der Schwerkraft immer wieder bewährt.
Die mit dem Becken verbundene Wirbelsäule des Menschen bildet eine vertikale Achse, über die wir den äußeren Kräften wie der Schwerkraft ausgesetzt sind. Hierbei stehen die einzelnen Wirbelkörper mit den sich dazwischen befindenden Bandscheiben exakt übereinander, wobei sich die Größe der einzelnen Segmente in Richtung der Halswirbelsäule verjüngen. Es erinnert mich an die von Künstlern aufeinander gestapelten Steine, die ich besonders in den Sommermonaten an einem Seeufer in der Nähe bestaunen kann. Die Steine werden jeweils mit so einer Präzision aufeinandergelegt, dass die Kräfteverhältnisse unter Berücksichtigung der Schwerkraft so aufeinander abgestimmt sind, dass der Steinturm sogar den sich ständig ändernden Wetterbedingungen standhält. Es herrscht Gleichgewicht.
Im Turm herrrscht Gleichgewicht
Hierbei ist zu erwähnen, dass es sich bei dem untersten Stein, wie bei der Wirbelsäule auch, um das kräftigste Segment handelt, wobei die Steine nach oben hin immer kleiner werden. Andersherum wäre es kaum zu bewerkstelligen, Steine auf die Art aufeinander zu türmen, ohne dass der Steinturm auf Grund der einwirkenden Schwerkraft zusammenfallen würde. Das mag im ersten Moment logisch erscheinen, es soll lediglich dazu dienen, sich die Schwerkraft, die unaufhörlich auf uns Menschen einwirkt, bewusst zu machen. Wenn ein Stein nur ein wenig verschoben wird, stimmen die Kräfteverhältnisse nicht mehr überein, und der Steinturm bricht auf Grund des fehlenden Gleichgewichtes zusammen. In gewisser Weise verhält es sich mit der Wirbelsäule ähnlich, die mit den übereinanderstehenden Wirbelkörpern an die aufeinander gelegten Steine erinnert.
Im Gegensatz dazu werden die einzelnen Wirbel über die umgebenen anatomischen Strukturen zusammengehalten. Wenn die idealen Kräfteverhältnisse auf die übereinanderliegenden Wirbel nicht mehr gewährleistet wird, weil der Mensch, aus was für einem Grund auch immer, aus dem Gleichgewicht gefallen ist, fällt die Wirbelsäule zwar nicht in sich zusammen, aber die ungünstigen Kräfteverhältnisse werden auf die anatomischen Strukturen wie Muskeln, Bänder und Gewebe in Form von übermäßiger Spannung übertragen. Das führt unweigerlich zu einer zusätzlichen kompensatorischen Schonhaltung. Die Schwerkraft wird nicht mehr durch die anatomische vorgegebene Achse kanalisiert, was zur Folge hat, dass wertvolle Energie verloren geht. Überhaupt geht es in seiner Essenz nur um Energie.
Im Becken wohnt die Lebensenergie
Gedanken als auch Emotionen stellen Energien dar, die unmittelbar mit den körperlichen physiologischen Abläufen in Interaktion treten. Bei vielen Menschen, die meine Praxis aufsuchen, kann ich ein energetisches, mental-emotionales Ungleichgewicht beobachten, das im umgekehrten Verhältnis zu den natürlich vorgegebenen anatomischen Vorgaben steht. Hierbei kommt es zu einer Schwerpunktverlagerung von unten nach oben. Der Schwerpunkt wird vermehrt ins Denken gelegt. Hierbei wird das intuitive Einlassen auf das Bauchgefühl vernachlässigt oder sogar ganz außer Acht gelassen. In unserer schnelllebigen Leistungsgesellschaft stellt das meines Erachtens ein gesellschaftliches Problem dar. Vielen Menschen sitzt der Stress regelrecht im Nacken, was dazu führt, dass der Bezug zum unteren Beckenbereich immer mehr verloren geht. Das äußert sich auch durch eine oberflächliche, manchmal sogar paradoxe Atmung, die nur im oberen Brustkorbbereich stattfindet, wobei der Zugang zum Beckenbereich, in dem wichtige Kraftzentren, Chakren, angesiedelt sind, abgeschnitten wird. Mit jenem selbst kreiertem energetischen Konstrukt steht der Mensch im wahrsten Sinne auf wackeligen Beinen. Seine Welt steht im weitesten Sinne auf dem Kopf, anstatt auf dem Fundament verwurzelten Seins. Es fehlt jegliche Stabilität, wie bei einem auf dem Kopf stehendem Steinturm, bei dem der kleinste Stein als Fundament für die darüber gestapelten Steine gewählt worden ist.
Das Becken des Menschen stellt den Dreh- und Angelpunkt des Menschen dar. Es ist das Gefäß, in welches der Mensch einkehren kann, um sich seiner wahren Natur bewusst zu werden. Das Becken ist der Ort, an dem Leben geboren wird. Alte Schriften berichten von der Kundalini-Kraft, die wie eine eingerollte Schlange im sakralen Bereich ruht und nur darauf wartet, zum Leben erweckt zu werden. Im Becken liegen laut Chakren-Lehre das Urvertrauen als auch die sexuelle Energie, die pure Lebensenergie und Freude darstellt.
Im Bereich des Oberbauches liegt das Zentrum des Friedens, über das wir mit den Themen, denen wir im Laufe des Lebens ausgesetzt sind, in Frieden kommen dürfen. Damit eine Pflanze in Richtung des Lichts wachsen und ihre Blüten entfalten kann, sind gute Wurzeln unerlässlich. Nach meiner Erfahrung gilt das ebenso für den Menschen. Eine tiefe Verwurzlung in sich selbst stellt die Voraussetzung dafür dar, dass der Mensch sich mit seiner vollen Kraft entfalten und sein innewohnendes spirituelles Potential leben und zum Ausdruck bringen kann.
Sich selbst in die Schwerkraft einbinden
Das bewusste Integrieren der Schwerkraft birgt das Potential in sich, den Menschen ins Gleichgewicht zu bringen. Die damit einhergehende spürbare Verbindung zum Becken als auch zur Erde, hat eine natürliche innere Aufrichtung zur Folge. Die Chakren, stehen optimal übereinander und sind so durchlässig für den Energiefluss. Es erfolgt eine Öffnung des Brustkorbs. Über diesen Weg kann das Licht des Herzens ungehindert fließen und sichtbar ausstrahlen. Die Schwerkraft bildet das Bindeglied, mittels dem der Himmel dem Menschen nahegebracht wird. Der Mensch kehrt mittels der Schwerkraft in sich ein, worauf seine innerste Natur zum Ausdruck kommt. Somit hat Laotses Zitat im Laufe der Zeit eine ganz neue Bedeutung für mich bekommen. Es handelt sich hierbei um eine Beschreibung einer äußerst wertvollen Erfahrung, die sich jedem Menschen erschließen kann, wenn er gewillt ist, sich darauf einzulassen. Eingebunden in die Schwerkraft bringt der Mensch das Leben anmutig zum Ausdruck.
Berino Schmid begleitet Menschen schon seit Jahren, sowohl in seiner Praxis als auch online, auf dem Weg der seelischen und körperlichen Heilung. Der Einbeziehung und die Integration der Schwerkraft nimmt in seiner Arbeit einen wichtigen Stellenwert ein. Die Erfahrungen, von denen seine Klientinnen und Klienten in seiner Praxis täglich berichten, decken sich mit seinen. Sie reichen von schlagartiger Schmerzfreiheit, Spontanheilungen bis zu transzendenten Erfahrungen.
Berino Schmid, Verwurzelt in der Schwerkraft
128 Seiten, 16,00 Euro
Verlag Neue Erde
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