Visionssuchen wurden von den meisten traditionellen Völkern vor allem an zwei wichtigen Punkten des Lebens in der einen oder anderen Form durchgeführt: einmal als Initiationsritual beim Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen. Zum anderen wurden Visionssuchen in der Mitte des Lebens praktiziert, wenn ein Erwachsener nach einem neuen Sinn, nach neuen Visionen für die zweite Hälfte seines Lebens oder nach Lösungen für anstehende Probleme suchte und sich dafür eine Auszeit in der Natur nahm.
Das Naturritual der Visionssuche
Die beiden US-Amerikaner Steven Foster und Meredith Little erkannten schon vor 45 Jahren den großen Wert, den solche Auszeiten einzelner Mitglieder für den Stamm und für die Protagonisten selbst bedeuten können, als sie als Psychologen und Sozialarbeiter in Indianer-Reservaten tätig waren. Angeregt durch diese Übergangs- und Stärkungsrituale der Indianer in der Natur entwickelten Foster und Little in ihrer School-of-lost-Broders das auch für moderne westliche Gesellschaften kompatible 12-tägige Ritual der Visionssuche. Sie bietet folgende Chancen:
- die Möglichkeit einer grundlegenden Selbstbesinnung und Selbstreflexion;
- die Chance zur Nachreifung der Persönlichkeit;
- die Gelegenheit, für eine klar definierte Zeit dem Stress des Arbeitslebens zu entfliehen und wieder besser mit seiner emotionalen Persönlichkeitsseite in Kontakt zu kommen;
- die Möglichkeit, einerseits schwelenden Ängsten auf die Spur zu kommen und andererseits ungeahnte Kraftpotentiale seiner Persönlichkeit frei zu legen.
Unter der fachkundigen Begleitung durch die Visionssuche-Leiter* kann eine Visionssuche zu einer fundamentalen persönlichen Lebenserfahrung werden. Alte Muster und Verstrickungen können aufgedeckt und ins Licht des Bewusstseins geführt werden und auf diese Weise abfallen. Eine komplette Neuausrichtung der Persönlichkeit kann so stattfinden; neue Visionen für das Leben können gefunden werden oder kommen zum Vorschein.
In der Tradition nordamerikanischer Indianerstämme wurde solch ein elementarer Prozess während der Auszeit in der Natur als „Stirb-und-Werde-Prozess“ bezeichnet, weil dabei eine grundsätzliche „Häutung“ stattfindet. Nicht zufällig gilt bei den Indianern die Schlange, die von Zeit zu Zeit ihre alte Haut abwirft, als das Symboltier des Übergangs.
Die tiefgehende Wirkung des Visionssuche-Rituals
Doch wieso kann so ein Ritual solch tiefe Wirkung entfalten? Natürlich hängt es von jedem einzelnen Teilnehmer ab, wie er sich darauf vorbereitet hat und welchen Lebensfragen er sich in dieser Auszeit in der Natur konkret stellen kann und will. Aber der Rahmen, für den die Visionssuche-Leiter zuständig sind, ist bereits entscheidend für das Gelingen des Rituals.
Die ersten vier Tage der Visionssuche dienen der Vorbereitung in der Gruppe. Die Leiter müssen darauf achten, dass jeder Teilnehmer in die Lage kommt, eine längere Auszeit in der Natur sowohl physisch als psychisch bewältigen zu können.
Am Morgen des fünften Tages beginnt dann die zweite Phase des Rituals: In einer kleinen feierlichen Zeremonie wird jeder Mann und jede Frau einzeln von den Leitern aus einem Steinkreis verabschiedet und in die sogenannte „Solozeit“ hinaus geschickt. Mit diesem Überschreiten der Schwelle des Steinkreises bricht der Initiand in die Anderswelt der Natur jenseits der gewohnten Realwelt auf. Daher wird die Solozeit auch „Schwellenzeit“ genannt. Sie dauert ebenfalls vier Tage und vier Nächte, also fast 100 Stunden lang.
Diese Auszeit verbringt jeder ohne Essen, ohne Behausung (Zelt) und ohne alle sonst üblichen Kommunikationsmittel wie etwa dem Smartphone. In der Schwellenzeit gilt jeder als unsichtbar für andere Menschen. Mit dabei haben die Initianden nur eine Matte, einen Schlafsack, eine Plane gegen Sonne und Regen, einen Rucksack mit Wechselwäsche, ein Tagebuch und ca. 16 Liter Wasser, vier Liter für jeden Tag. In dieser Gärungszeit für die Persönlichkeit halten die Leiter Wache im Basislager. Sie stehen bereit, falls einer der Teilnehmer in Not geraten sollte.
Am Morgen des neunten Tages wird dieses Alleinsein in der Anderswelt durch das bewusste Überschreiten der Schwelle zurück in den Steinkreis wieder verlassen. Man kann diesen Schritt auch als „Rückkehr in die Realwelt“ bezeichnen. Die folgenden vier Tage werden nun dazu benötigt, alle Geschichten der Teilnehmer von allein da draußen in der wilden Natur zu hören. Die Geschichten werden gedeutet und die Rückkehr in ihre Familien und in die Gemeinschaft vorbereitet, aus der die Teilnehmer gekommen sind.
Für nicht wenige Initianden hat die Solozeit zur Folge: Die alte Persönlichkeit ist im Visionssuche-Prozess gestorben und eine neue ist geboren worden. Somit bedeutet vor allem die Solozeit einen elementaren „Stirb-und-werde-Prozess“. Dies soll am Beispiel von Robert aufgezeigt werden, der mit mir zusammen vor einigen Jahren die Visionssuche in den Kärntner Nockbergen gemacht hat.
Robert, 51 Jahre (Name geändert): Neugeburt in den Kärntner Nockbergen
Robert musste sich seit Monaten mit einem schlimmen Problem herum schlagen: mit der undefinierbaren Angst verrückt zu werden. Da diese Ängste nicht von ihm wichen, entschloss er sich, eine Visionssuche machen, in der er sich in einer Art von „paradoxer Intention“ genau seinem Problem aussetzen wollte: der Angst tatsächlich verrückt zu werden, wenn er fast 100 Stunden allein mit sich in der Natur verweilt. Die Leiter und Teilnehmer versuchten, ihm Mut zu machen, bevor er in seine Solozeit hinausging. Nach der Rückkehr erzählte er uns allen die folgende Geschichte:
Vier Tage und Nächte hat es während meiner Solozeit geregnet. Gott sei Dank hatte ich zwei Regenplanen mit dabei, die ich an der Fichte befestigt hatte, unter der ich lag. Nur so konnte ich verhindern, dass mein Schlafsack nass wurde. Durch das widrige Wetter war ich gezwungen, die meiste Zeit in meinem Schlafsack unter den Planen zu verbringen. Ich fühlte mich darin wie in einer winzigen Höhle eingeschlossen und eingekuschelt wie ein Embryo im Bauch der Mutter. Innere Bilder stiegen nun in schneller Abfolge in mir hoch und ich versuchte, diese in meinem Tagebuch zu notieren. Ich verlor jedes Zeitgefühl und war schon am zweiten Tag in ein zeitloses Kontinuum geraten, in dem sich Tag und Nacht fließend berührten.
Am Nachmittag des vierten Tages hörte der Regen endlich auf. Bei einbrechender Dunkelheit legte ich einen Steinkreis aus und überschritt diesen ganz bewusst nach innen. Hierin wollte ich die Nacht durchwachen. Was würde nun in dieser letzten Nacht wohl geschehen? Würde ich weiter so aufgewühlt sein wie in den Nächten zuvor? Würden mich meine Ängste wieder überfallen?
Schon nach kurzer Zeit muss ich wohl fest eingeschlafen sein, denn nun hatte ich einen furchtbaren Traum. Ich sah mich lebendig in einem Sarg eingeschlossen, der soeben langsam auf einem Förderband ins lodernde Feuer des Krematoriums geschoben wurde. Ich hämmerte verzweifelt gegen die Holzwände und schrie vor lauter Todesangst, doch niemand hörte mich. Ein grauenvoller Tod stand mir unmittelbar bevor. Und ich musste alles mit ansehen, wie ich nun bei lebendigem Leibe ins tödliche Feuer transportiert wurde. Da wachte ich auf – mitten in der Nacht. Ein schrecklicher Albtraum! Aber ich lebte ja noch, es war nur ein Traum. Mit unruhigen Gedanken schlief ich bald darauf wieder ein.
Doch nun hatte ich einen neuen Traum. Ich sah mich als kleines Kälbchen soeben aus dem Bauch der Mutter kommen und fiel auf den Boden. Sofort wurde ich von der Kuh-Mutter abgeschleckt und betüttelt. Ich war soeben geboren worden – als kleines Kälbchen. Ich versuchte aufzustehen, was mir auch nach einigen Versuchen gelang. Nun stand ich unsicher auf den Beinen in einer mir unbekannten neuen Welt – noch frierend. Aber diesmal war ich nicht mehr allein, meine Kuh-Mama kümmerte sich sehr liebevoll um mich und war mir sehr zugewandt. Mit einem schönen Gefühl von Geborgenheit wachte ich auf, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte.
Doch diesmal war meine Umgebung ganz anders als nach dem ersten Traum. Denn soeben ging die Sonne auf und tauchte die gegenüberliegenden Nockberge in ein magisches Licht. Die Täler waren noch in Nebelschwaden gehüllt, die frische Morgenluft hatte ein belebendes Aroma. In diesem Moment spürte ich, wie mich eine unwahrscheinliche Kraft durchströmte und wie mich ein Glücksgefühl durchflutete. Ich war wie neugeboren. Meine Ängste waren wie weggeblasen. Nun überschritt ich bewusst meinen Steinkreis nach draußen und löste ihn danach wieder. Dann packte ich meine Sachen und stieg hinab zur Alm, zu unserem Basislager.“
Reflexion der Visonssuche
Viele Menschen haben vor solch einer viertägigen Auszeit Angst. Darum sind sie nicht bereit, sich einer Visionssuche zu stellen, auch wenn dies sinnvoll wäre. Das ist einerseits sehr verständlich. Doch wovor haben sie eigentlich Angst? Es kann ja nur das hochkommen an Gedanken, Gefühlen und an „psychischem Material“, was sowieso in ihnen steckt.
Robert hatte tatsächlich zuerst massive Ängste erlebt, als er, eingeschlossen im Sarg, bei lebendigem Leibe ins Feuer des Krematoriums geschoben wurde. Doch es war nur ein Traum. Womöglich wurden aber in diesem „Traum-Feuer“ uralte, archaische, fundamentale Lebensängste, ja sogar die Angst vor dem Tod, von den Flammen verzehrt, die es wohl in jedem von uns gibt. Auf alle Fälle aber scheint seine „Verrücktheits-Angst“ in diesem Traum-Feuer ein für alle Mal verbrannt worden zu sein.
Dies war die Voraussetzung dafür, dass Robert dann im Folgetraum seine psychische Neugeburt erleben durfte – wieder in einem symbolischen Seelenbild als Kälbchen, das soeben aus dem Leib der Kuh-Mutter ins Leben fällt. Dieses Kälbchen war zwar noch etwas frierend, aber ohne Ängste. Vor allem erlebte es die innige Zuwendung von seiner Kuh-Mutter und damit eine Geborgenheit, die Robert zuvor so noch nie erlebt hatte.
Robert hatte somit einen fundamentalen Stirb-und-Werde-Prozess durchlebt. Als neuer Mensch reiste er nach Ende der Visionssuche ab. Da ich mit ihm auch noch Jahre nach unserer Visionssuche in Kontakt stand, konnte ich von ihm erfahren: Die Verrrücktheits-Ängste kehrten nie wieder zurück. Er war nun völlig frei davon…
* Mit Visionssuche-Leiter sind stets Leiter und Leiterinnen, mit Teilnehmer Teilnehmerinnen und Teilnehmer usw. gemeint. Ich habe bewusst auf das Gendern verzichtet, um den Text nicht unnötig aufzublähen.
Peter Maier, Lebensberatung, Supervision, Initiations-Mentoring, Autoren-Tätigkeit. Weiterführende Infos:
www.visionssuche.net (Plattform der meisten Anbieter von Visionssuchen im deutschsprachigen Raum)
www.schooloflostborders.org (amerikanische Ur-Schule der Visionssuchen)
Bücher von Peter Maier:
Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft
Band I: Übergangsrituale, Softcover, 18,99 Euro,
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Heilung – Initiation ins Göttliche
Softcover: 18,99 Euro, eBook: 11,99 Euro
Alle Titel: Epubli Berlin
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