Wenn nicht drin ist, was drauf steht….
Wir alle haben von unseren Eltern vor einiger Zeit unser Leben geschenkt bekommen. Erwartungshaltungen, die zarte, junge, neugierige heranwachsende Kinder an ihre Eltern haben, werden aber von einigen Eltern nicht erfüllt. Auch ganz lebensnotwendige manchmal nicht. Das kann natürlich viele Gründe haben und einige kann man sich vielleicht später als Erwachsener erklären, aber es ändert zunächst nichts an den Gefühlen der betroffenen Kinder. Die inneren Eltern begleiten uns….
Das kann je nach Schwere-Grad der Erlebnisse zu Gefühlen wie Enttäuschung, Wut, Hoffnungslosigkeit bis hin zu bitterlicher Verzweiflung oder mehr führen. Diese Gefühle bleiben meist enge Vertraute und können sich in jedem beliebigen Konflikt widerspiegeln. So zum Beispiel beim Lesen eines Buches, beim Kauf eines Produktes, einer neuen Wohnung, eines neuen Jobs oder bei einer enttäuschten Liebe…, weil einfach nicht das drin war, was man dachte, dass darauf stand. So hatte man sich das nicht vorgestellt.
Ist doch nicht so schlimm…
Nun könnte man zu dem Alltagskonflikt sagen: „Das ist alles doch gar nicht so schlimm. So etwas ist doch ganz normal!“ Klar – für einige Menschen ist es das auch. Diese Menschen verlieren in so einem enttäuschten Alltagserlebnis vielleicht nicht ihre Handlungsfähigkeit, sondern suchen nach einer Lösung, finden diese auch und dann „wird alles wieder gut“. Ein bisschen Mut, Vertrauen und positives Denken bringen alles wieder ins Lot.
Für Menschen deren Grunderwartungen an ihr Leben aber in der Tiefe verletzt wurden, sind enttäuschte Gefühle so unendlich vertraut, dass sie in dem eigentlichen „Hier und Jetzt“ nicht mehr handlungsfähig sind, sondern sich augenblicklich in diesem präsenten Gefühl verlieren, weil es so verflixt vertraut ist. Es ist „wie zu Hause“… So war es schon immer.
Wenn Vertrautheit mit etwas Schwierigem eng verbunden ist, gehört es auf perfide Weise zu dem erlernten Vertrautheitsgefühl dazu. Das Schwierige und die Vertrautheit gehören zusammen wie Ein- und Ausatmen. Auch wenn man unendlich viele Dinge unternimmt, um glücklich zu werden und alte unangenehme Erfahrungen abzuschütteln, hat das Schwierige über den Pfad der Vertrautheit einen leichten Zugang zum eigenen Wesen. Durch die Vertrautheit kann man sich in dem schwierigen Umfeld besser bewegen als in einer freien, positiven, raumgebenden Umgebung.
Doch nur weil etwas vertraut ist, ist es noch lange nicht gut
Es ist sehr wichtig, diese enge Verbundenheit zu begreifen, um sich selbst und die eigenen Wege besser zu verstehen und freie Entscheidungen treffen zu können. Diese eigenen inneren Wege der Vertrautheit führen uns direkt zu den inneren Kindern. Durch die Verbundenheit der Vertrautheit werden sie auch im erwachsenen Alltag durch kleinste Trigger auf den Plan gerufen und spielen ihr bewährtes Programm aus längst vergangenen Zeiten ab.
Dadurch wird das Gefühl der Vertrautheit genährt, gestärkt und bestätigt. Die inneren Kinder bleiben Kinder, die aus ihrer Verzweiflung heraus hochintelligente Techniken und innere Wege entwickelten haben, um die ausweglosen Situationen magisch zu meistern. Man gewöhnt sich an diese Lebensgestaltung. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie es anders gehen könnte.
Innere Kinder beziehen ihre Aktionen immer auf „damals“ und auf ihre leiblichen und sozialen Eltern der entsprechenden Zeit. Sie arbeiten stets und ständig an den Wunden alter Zeiten. Sie erinnern sich noch. Die Aufmerksamkeit richtet sich also automatisch in Richtung Vergangenheit. Dieses Verhalten kostet Anwesenheit und Handlungsfähigkeit im „Hier und Jetzt“.
Was passiert auf dem Weg dazwischen? Wo sind die inneren Eltern?
Genau hier kommt jetzt das Konzept der inneren Eltern zum Tragen. Kinder sind zunächst Kinder, aber sie werden mit der Zeit erwachsen. Wenn es Anteile gibt, die in Bruchteilen von Sekunden wieder zu handelnden Kindern werden, fehlen die inneren Eltern – deswegen beziehen sich die inneren Kinder ersatzweise auf die ursprünglichen Eltern und ihre bewährten Konzepte. Sie sind allein – wie damals. Sie konnten nicht behütet erwachsen werden, deshalb schieben sich die leiblichen oder sozialen Eltern automatisch auf die Position der handelnden Erwachsenen, die wiederum zu ihren inneren Kindern degradieren.
Natürlich sind die Kinder hochintelligent und charmant, aber genau das ist das angelegte Level, dem man in der Aufarbeitung begegnen wird. Die inneren Eltern sind das Bindeglied zwischen deinen inneren Kindern, deinen echten Eltern und dem Zugang zu deiner gegenwärtigen Handlungs- und Versorgungsfähigkeit. Auch erwachsene Menschen mit über 60 Jahren können sich bei einem Telefonat mit ihren Eltern zu Weihnachten augenblicklich wie ein fünfjähriges Kind fühlen. Das wird zurecht als unpassend und kraftraubend wahrgenommen, passiert aber vielen Menschen. Genauso oft hängen viele Menschen innerlich immer noch in dem emotionalen Moment der Scheidung ihrer Eltern fest.
Unsere echten Eltern müssen wir nehmen, wie sie sind, aber unsere inneren Eltern können wir aus alten Zeiten wieder zu uns holen und mit ihnen freier leben. Die verletzten Kinder hören ganz tapfer niemals auf, noch unverarbeitete Wunden sichtbar zu machen. Das tun sie nicht, um einen fertig zu machen, sondern aus dem Wunsch, dieser Wunde zu entwachsen und zu heilen. Es ist Zeit, die Trennung zu beenden und den unverletzten Kern ins Jetzt zu holen.
Das innere Kind wird erwachsen
Vor Kurzem war eine Frau sehr verblüfft von einem Kapitel zum „inneren Kind“ aus meinem Buch Sie habe bisher noch nie darüber nachgedacht, dass es ein Ziel sein könnte, dass innere Kinder erwachsen werden! Sie hielt das ewige innere Kind für Normalität.
Jedes Kind träumt und redet mit leuchtenden Augen davon: „Wenn ich groß bin, dann…“ Was bedeutet denn Groß-sein, Erwachsen-sein im Kontext eines inneren Kindes? Großsein heißt: handeln können, mehr und mehr selbst gestalten, bis man kein Kind mehr ist, sondern erwachsen. Wenn man jetzt aber von einem ewigen inneren Kinderstatus ausgeht und das Dilemma der Vertrautheit mit einbezieht, dann erklären sich die Gefühle bei dem oben genannten Weihnachtstelefonat eigentlich von selbst. Oder nicht?
Das Unangenehme an inneren Kindern ist es, zwar einerseits so kräftig und penetrant zu sein, dass man sie nicht belügen kann. Und es dadurch bei dem Weihnachtstelefonat nicht wirklich etwas nützt, so zu tun, als wäre alles in Ordnung und man stände über den Gefühlen. So ist es anderseits ein Segen, dass sie so kräftig und penetrant sind, weil man dadurch jederzeit und egal wie alt man ist, mit der echten Wundheilung beginnen kann und sie dem alten, vertrauten Kinderstatus entwachsen können.
Ist drin, was drauf steht?
Nur weil man Eltern hat, die einem das Leben geschenkt haben, verbringt man die Kindheit nicht selbstverständlich in einem behüteten, liebevollen Nest. Wünschen würde sich das sicherlich jedes Kind. Und jedes Kind hat auch ein Gefühl dafür, wie das funktionieren könnte.
Wenn nun im Alltag eines Erwachsenen beispielsweise Gefühle der Enttäuschung entstehen, weil nicht drin war, was drauf stand, in der Beziehung oder im Job, entsteht dadurch eine Möglichkeit, den Weg zum verlorenen inneren Kind nachzuvollziehen. Wenn man die inneren und bislang unsichtbaren Wege versteht, kann man sie auch gehen. Und Wege kann man praktischer Weise in beide Richtungen gehen – also hin zum verlorenen inneren Kind und wieder zurück ins Hier und Jetzt.
Hand in Hand mit den inneren Eltern kann das gelingen und zwar egal, wie alt jemand ist und was drin ist und was drauf stand. Es ist ein Weg durch einen inneren Märchenwald. Aber viele Märchen beginnen ganau damit, dass das Kind gerade Vater und Mutter verloren hat. Sie handeln vom Weg des Wachstums zu sich selbst.
Stell dir vor, das gilt auch für das Märchen deines Lebens…
Kim Fohlenstein hat Pädagogik und Philosophie studiert, ist ausgebildete Craniosacral-Therapeutin, Heilpraktikerin, Osteopathin sowie System-Coach. Sie lebt seit 2019 in der Bretagne und arbeitet als Autorin, Coach und Seminarleiterin.
Kim Fohlenstein: Das vermächtnis deiner inneren Eltern
271 Seiten, 18,00 Euro, Scorpio Verlag
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