Indigenes Wissen wird in den Kulturen Nordamerikas bis auf den heutigen Tag tradiert. So solle man sich vor jeder wichtigen Entscheidung der sieben Generationen bewusst werden. Es wird das einerseits im Sinne der Verehrung der Ahnen auf sieben vorangegangene Generationen bezogen, andererseits auf die kommenden, noch ungeborenen. Diese weise Empfehlung zur Übung der mentalen Verbindung mit sieben Generationen ist seit Jahrhunderten Teil der spirituellen Tradition.
Woher kommt indigenes Wissen?
Wenn es heutzutage um die Herkunft dieses „Sieben-Generationen-Gewahrseins” geht, ist immer wieder von einem „Confederation Act” die Rede, der vermutlich im 12. Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung unter den „Haudenosaunee” (von den Europäern und den mit ihnen verfeindeten Algonkin auch „Irokesen” genannt) zustande kam. Es ging damals darum, die Grundlagen für das friedliche Zusammenwirken von fünf – später sechs – verschiedenen Stämmen des Volks zu vereinbaren.
In dieser Verfassung ist im 24. Artikel von den Gesandten der Völker, den „Hütern” („Lords of the Confederacy of the Five Nations”), die Rede. Ihre Aufgabe besteht darin, als „Mentoren” die gemeinsamen Interessen der konföderierten Völker zu verwalten und zu vertreten:
„Die Hüter der Konföderation der fünf Nationen sollen für alle Zeiten Mentoren des Volkes sein. Die Dicke ihrer Haut soll sieben Spannweiten haben – das heißt, sie sollen gegen Ärger, beleidigende Handlungen und Kritik geschützt sein.” (1)
Sieben Generationen dicke Haut
Auf diese Analogie der sieben Spannweiten dicken Haut wird das Sieben-Generationen-Gewahrsein immer wieder zurückgeführt. Ganz sicher würde sich heutzutage manches in unserem Verhältnis zur Welt und zu unserem verantwortlichen Handeln verändern, wenn wir uns – wie empfohlen – vor jeder wichtigen Entscheidung um ein Empfinden für sieben Generationen bemühen würden. Dadurch würde das Ganze vor allen Details Beachtung finden. Dadurch würden wir eine Art der Weltbetrachtung erneuern, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Naturwissenschaft durchaus noch vertreten war. So waren für Alexander von Humboldt noch alle Wesen und Erscheinungen der Natur miteinander in einem „Netz des Lebens” verknüpft. Daraus erschloss sich für ihn zugleich eine Dimension ökologischer Verantwortung, zu der die Historikerin Andrea Wulf treffend schreibt: „Betrachtet man die Natur nun als Netz, wird offensichtlich, welchen Gefahren sie ausgesetzt ist. Alles hängt mit allem zusammen. Wenn ein Faden gezogen wird, kann sich das ganze Gewebe auflösen.” (2)
Goethes „Urpflanze“ – auch ein Prinzip indigenen Wissens?
Dieses Prinzip verfolgte auch Johann Wolfgang von Goethe im Zusammenhang seiner botanischen Studien, aufgrund derer er schließlich gar von einer „Urpflanze” sprach. Mit diesem bemerkenswerten Begriff bezeichnete er ein geistiges Urbild aller Blütenpflanzen, das jeder nur möglichen Form der im Physischen erscheinenden Pflanzen zugrunde liegt. Goethe betrachtete die Welt dafür ebenfalls holistisch. Holistisch bedeutet vom Ganzen zum Teil fortschreitend, und nicht additiv von den einzelnen Pflanzen aus hin zu einer vereinheitlichten Systematik.
Auch das ist indigenes Wissen
Dass es sich bei der Urpflanze um ein geistiges Urbild alles Pflanzlichen, also nicht etwa um die eine, ursprüngliche, physisch gegenwärtige Pflanze handeln würde, von der alle anderen sich ableiten ließen, verdeutlichte er in seinem Hauptwerk zur Botanik. Darin beschreibt er die Metamorphose der Pflanzen derart, dass eine „geheime Verwandtschaft der verschiedenen äußern Pflanzenteile” mit einem gemeinsamen, allen differenzierten Erscheinungen zugrunde liegenden Prinzip hervortritt. (4)
Schließlich prägte Goethe den Begriff „Morphologie” (aus altgriechisch μορφή morphé, ‚Gestalt‘, ‚Form‘, und λόγος lógos ‚Lehre‘) und gab überdies den Anstoß zur Entstehung des so bezeichneten Teilbereichs der Biologie.
Die These besagt, dass wir Menschen eine Pflanze als Pflanze erkennen, weil in unseren Gedanken jenes Urpflanze genannte Prinzip gegenwärtig wird. Dieses Prinzip liegt auch der Ausbildung aller verschiedenen Pflanzengestalten als Lebenskraft zugrunde. Sie beruht auf einem Erleben der Natur, das sich ebenso auf Tiere und Menschen sowie auf die anorganische Natur erstrecken kann. Grundsätzlich geht es dabei darum, aufgrund äußerer Merkmale einer Gestalt von einer Erfahrung des Seins zum Erleben des Werdens überzugehen.
Wenn, der Idee Goethes folgend, Werden und Sein der leiblichen Gestalt bei Pflanzen, Tieren und Menschen von einem Typus ausgehen, so kann für das seelische Leben und Erleben der Tiere und Menschen ein gemeinsames Prinzip von Resonanz und Einklang angenommen werde. Dieses liegt dieser Art der Lebensäußerung konstituierend zugrunde. Für die Erfahrung des typisch Menschlichen kommt hinzu, dass bestimmte Taten in ihrem Zusammenhang mit Intuitionen gedacht werden können, die von Menschen frei erfasst wurden und werden. Für den Menschen gilt demnach: Einzelheiten von Gestalt, seelischem Leben und geistiger Leistung erscheinen stets von einem Ganzen her konstituiert.
Das Bewusstsein von sieben Generationen würde damit also im wahrsten Sinne des Wortes eine geistige Wirklichkeit erfassen. Indigenes Wissen pur! Möglicherweise kam es den Haudenosaunee genau darauf an.
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(1) Quelle: https://cscie12.dce.harvard.edu/ssi/iroquois/simple/1.shtml (zuletzt abgerufen am 13.09.2022)
(2) Wulf, Andrea: Alexander von Humboldt, München 2016, S. 24
(3) Goethe, Johann Wolfgang: Metamorphose der Pflanzen, Stuttgart 1977, S. 27 ff.
(Bildquelle: Cornelia Keusemann, Herdecke)
Peter Krause ist Journalist und Sachbuchautor mit den Schwerpunkten Wirtschaft, Medizin und Ökologie. Immer wieder widmet er sich in seinen Veröffentlichungen spirituellen Aspekten, so zum Beispiel auch in seinem jüngst erschienenen Buch „Sieben Generationen”, zu dem er durch seinen Kontakt zu kanadischen First Nations inspiriert wurde.
Peter Krause: Sieben Generationen
192 Seiten, 18,00 Euro
Neue Erde Verlag
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