Die Hände mit den rot bemalten Fingerspitzen fliegen durch die Luft. Die Glöckchen an den Knöcheln bimmeln während die Füße kräftige Rhythmen stampfen. Die strahlend farbige Seide des Kostüms blitzt im Rampenlicht. Und dann diese Augen! Schnell bewegen sie sich von einem Augenwinkel zum anderen während der Nacken ebenso agil von Seite zu Seite schnellt. Tempeltanz und Tänzerin sind ein Gesamtkunstwerk.
Bharatanatyam heißt der Klassische Südindische Tanzstil des Tempeltanzes, der heute zu den beliebtesten in Indien zählt. Beheimatet ist er im Bundesstaat Tamil Nadu ganz im Südosten des Landes. Über mehr als 2000 Jahre lässt sich diese Tanztradition zurückverfolgen. Getanzt wurde sie ursprünglich von den Devadasis, den Dienerinnen Gottes in den großen Tempelkomplexen im Süden des Subkontinents, einer Art archaischen Priesterkaste.
Heute hat Tempeltanz jedoch längst seinen Weg auf die Bühnen der ganzen Welt gefunden, wo er das Publikum begeistert mit seinen komplexen Rhythmen und den Geschichten, die die Tänzerin mit Hilfe von Handgesten und schauspielerischem Ausdrucksvermögen erzählt. Und selbstverständlich haben zu allen Zeiten auch Männer diesen Tanzstil ausgeübt..
Ein super Training
Das Training ist vielfältig, es stärkt die Körperkraft, erhöht die Koordination und das Konzentrationsvermögen und verleiht dem ganzen Menschen Grazie und Ausstrahlung. Adyar K. Lakshman, einer der großen Meister des Bharatanatyam im 20. Jahrhundert, pflegte zu sagen: „Wenn man eine Schülerin beobachtet, wie sie sich bemüht, die Tanzschritte zu erlernen, und wenn sie eine Zeit lang fleißig geübt hat, dann stellt man eines Tages eine Veränderung fest: Ihre Augen beginnen zu leuchten und von ihrer Erscheinung beginnt ein gewisser Zauber auszugehen.“ Man muss es erlebt haben, um diese Veränderung, die den Lehrer bei jedem neuen Schüler immer wieder begeistert, zu verstehen.
Doch woher kommt dieser wundersame Wandel? Zunächst werden die Grundschritte des Bharatanatyam erlernt, die Adavus. Aufgeteilt sind sie in Serien, wie ein Alphabet an Körperbewegungen. Das Grundgerüst der Bewegungen ist die diamantförmige Grundhaltung Araimandi, dem Demi-plié im Ballett ganz ähnlich, nur werden im Bharatanatyam die Füße kräftig auf den Boden gestampft. Dazu kommen nach und nach Bewegungen von Armen, Händen, Nacken und Augen.
Die Bewegungen im Bharatanatyam sind sehr geometrisch und gewinnen durch das Hinzufügen kleiner Details – hier eine Neigung im Rücken, dort ein kleiner Akzent mit dem Nacken – eine unnachahmliche Grazie. Nach ein bis zwei Jahren ist dieses Inventar an Schritten bewältigt bei regelmäßigem Training. – Das Körpertraining des Bharatanatyam hat eine vergleichbare Wirkung auf den Körper wie die Yogastellungen. Besonders das Stampfen wirkt auf den weiblichen Körper verjüngend, da es die tiefe Durchblutung des Knochenmarks anregt, was unter anderem Osteoporose vorbeugt.
Parallel dazu gibt es die Handgesten, auch Mudras oder Hastas genannt, die geübt werden. Sie sind die Grundlage für den Ausdrucksteil des Bharatanatyam, bei dem Heldentaten, Liebesgeschichten und andere Begebenheiten erzählt werden. Es gibt 28 Hastas, die einhändig und 24 Hastas, die beidhändig ausgeführt werden. Am Anfang werden die Gesten von Schülern oft als Herausforderung empfunden. Doch bei regelmäßigem Üben werden sie einem schnell zur Gewohnheit. Die Handgesten im Bharatanatyam sind zu weiten Teilen mit den Hand-Mudras im Yoga identisch. Sie haben eine ausgezeichnete Wirkung auf die körperliche Gesundheit und die Gehirnfunktionen. Und vor allem beugen sie Arthritis und Arthrose in Händen und Armen vor.
Die getanzten Lieder handeln von der Sehnsucht der Tänzerin nach ihrem göttlichen Geliebten.
Im Anschluss an die tänzerische Grundausbildung erfolgt das Studium des „Margam“, des Repertoires. Besonders schön ist der erste Tanz, Alarippu, genannt, was übersetzt „das Aufblühen der Blume“ heißt. Dieser Tanz gehört zu den ältesten, die überliefert sind und ist wie ein rituelles Erwachen der Augen, des Nackens der Arme und der Füße der Tänzer. Die Grundstellungen werden alle durchlaufen, Zug um Zug eignet sich die Tänzerin den Raum an, den sie benötigt, um ihre Darbietung zu entfalten.
Was den Tempeltanz klar abgrenzt von einer folkloristischen Tradition, einem Volkstanz, ist sein Bezug auf das Natya Shastra, einem Text, der auf den Zeitraum zwischen 200 vor und 200 nach Christus datiert wird. Natya heißt „Tanz“ oder „Darstellende Kunst“ und Shastra heißt „Buch“. Als Verfasser dieses Werkes, das etwa 6000 Verse in der Sprache Sanskrit umfasst, gilt der Weise Bharata Muni. Die Schrift deckt die Bereiche Tanz (Nritya), Musik (Sangita) und Schauspiel (Rupaka) ab und gilt als der älteste und umfangreichste Text, der jemals zu diesem Thema verfasst wurde.
Devadasis galten als Glücksbringer
Die Devadasis galten in der tamilischen Gesellschaft als glücksbringend und der Umgang mit ihnen als wünschenswert. Kulturanthropologen und Kunsthistoriker sagen, dass die Gruppe der Tänzerinnen der Überrest einer älteren Gesellschaft war, die matriarchal organisiert war. Später erfolgte die sogenannte Brahmanisierung der Gesellschaft, als die Kaste der Schriftgelehrten, der Brahmanen, die Ausführung der Riten im öffentlichen Raum übernahm. Sie stellten fortan die Priester in den Tempeln. Doch im Tempeltanz der Devadasis lebte die Tradition weiblicher Priesterschaft parallel dazu weiter.
Die Tänzerin repräsentiert die Heldin der Geschichte
Interessant ist auch, dass in den Geschichten, die in Liedern vorgetragen und von der Tänzerin dargestellt werden, die Heldin weiblich ist. Die ganze Literatur der Tanzlieder ist deshalb auch eine weltweit einmalige Tradition weiblicher Narration, also der Erzählung aus der weiblichen Perspektive. Oftmals sind Liebesgeschichten das Thema dieser Lieder, sie handeln von der Sehnsucht der Tänzerin nach ihrem göttlichen Geliebten.
Dieses Verhältnis der Tänzerin zum Geliebten hat mehrere Ebenen, einmal steht die Tänzerin stellvertretend für die menschliche Seele, die mit der göttlichen Seele eins werden möchte. Insofern ist die Tänzerin das Medium, das zwischen der Dimension des Göttlichen und dem Publikum vermittelt. Andererseits steht die Tänzerin auch für Shakti, die Geliebte des Gottes Shiva. Dabei steht Shiva für das reine Bewusstsein und Shakti, seine Geliebte, für die Energie, die im Raum genauso geometrisch strukturiert ist wie die Tanzschritte im Bharatanatyam. Insofern ist die Tänzerin eine Repräsentantin dieser heiligen Geometrie, der Energie der Göttin.
Natalie Soondrum ist ausgebildete Bharatanatyam Tänzerin.
Sie unterrichtet in ihrer Schule Sri Mahashakti Nilayam, Institut für Ashtanga Yoga und Indischen Tanz, Zerninstr. 7-9 in Darmstadt-Eberstadt.
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