Der moderne Mensch ist seiner Wurzeln beraubt und zugleich erwacht das Bedürfnis nach einer neuen, intensiven Verbindung mit der Natur – ja, auch weil Erwachen ein Erinnern ist. Wer in den Wald geht, kehrt zur Quelle des Lebens zurück, denn die Natur ist unsere Mutter. All unsere Organe, unsere Zellen, sogar unser Geist und unsere Seele entstammen dem Grün der Natur. Wenn wir beginnen, Ganzheitlichkeit wieder als eine große Analogie von Makro- und Mikrokosmos zu verstehen, als eine Allverbundenheit von Natur, Mensch, Tier und Kosmos, so finden wir eine Art von Trost und Kraft, eine Form des Staunens, der Liebe und der Versöhnung, die wir vor langer Zeit verloren gegangen glaubten – dann werden auch wir immer wieder neu geboren.
„Das rasante Tempo unserer modernen Gesellschaft resultiert aus dem Sinnverlust der Aufklärung und der Dominanz der modernen Wissenschaft. Wenn das menschliche Leben als reines Zufallsprodukt innerhalb eines scheinbar chaotischen Kosmos betrachtet wird, wundert es mich nicht, dass sich viele Patienten ohnmächtig und orientierungslos fühlen. Ein sinnloses Leben auf einer zufälligen Welt und in einem planlosen Universum ist der Freibrief für eine egoistische, ressourcenfressende und spaßorientierte Gesellschaft, in der Konsum und Verschwendung zum Opium einer transzendentalen Obdachlosigkeit geworden ist.“ (Thomas Lambert Schöberl, Grüne Seelen)
Der Sinnverlust im Privaten aber auch auf gesellschaftlicher Ebene geht mit dem Verlust von Vertrauen, Verbundenheit und Kreativität einher. Die Rationalisierung der Welt ist unser Versuch, die Menschheit von Leid und Angst zu befreien. Die Vorstellung einer Weltenformel, die Illusion einer Zähmung, Heilung oder Optimierung der Natur auf Basis von Technik und Wissenschaft entfernt uns nur noch mehr vom Sinn einer allumfassenden Verbundenheit, unserer individuellen Berufung und unserer eigenen Intuition.
Größtenteils leben wir eine Mentalität, die uns suggeriert, dass wir uns einfach so lange einer wissenschaftlichen fundierten Selbstoptimierung zu unterziehen bräuchten, bis schließlich keinerlei Lebensrisiko mehr bestünde – ja, alles ist berechenbar. Im Umkehrschluss ergibt sich daraus, dass Misserfolg, Scheitern und Unglück einzig und allein auf die Entscheidung oder die Inkonsequenz des Einzelnen zurückzuführen sind. Eine solche Mentalität ist höchst problematisch für unsere Gesundheit und nicht sehr förderlich für den Zusammenhalt einer Gesellschaft.
Angst vor Wandel und Veränderung ist Angst vor dem Tod, und Management ist die Schlüsselqualifikation unserer Zeit. Merkwürdigerweise brauchen Veränderung und Tod aber kein Management – sie holen uns einfach ein! Und so findet das Studium des Lebens im Labor des Wandels statt, einem Wald, der vor Erneuerung und bedingungsloser Hingabe nur so strotzt, einem Wattenmeer, in dessen Gezeiten nichts von Dauer, aber alles voller Leben ist. Ja, nur an dem, der so bleibt, wie er ist, zieht das Leben ungelebt vorüber.
Pilgern – das Heilige in der Natur finden
Was uns alle großen spirituellen Meister der Menschheitsgeschichte zu vermitteln versucht haben, war, dass Körper, Geist und Seele in Bewegung bleiben müssen, wenn wir Zufriedenheit, Entwicklung, Empathie, Wohlbefinden und vielleicht gar einen gewissen Grad an Erkenntnis erreichen wollen. Egal ob Buddha, der 40 Jahre auf Wanderschaft war, ob Jesus, der durch Palästina zog, Sokrates der durch Athen streifte oder Mose, der bis zum Ende seiner Tage sein Volk ins gelobte Land führte – alle diese geistlichen Führer lebten uns vor, dass wir dem Göttlichen im Naturerleben, auf Wander- und Pilgerschaft, beim Fasten, im Verzicht oder gar in der Not auf besonders intensive Weise begegnen. Mohammed soll gesagt haben, dass man durch Beten nur auf halben Weg zu Gott fände, durch das Fasten aber an der Schwelle des Himmels rühre.
Das Wandern in der Natur und das 40tägige Fasten, das schon Johannes der Täufer und Jesus praktizierten, bezeichne ich als die Lehre der Leichtigkeit. Überdrüssige, unbrauchbare und überholte Muster, Gedanken oder unnütze Konsumgüter loszulassen, schafft Raum für neue Horizonte und ermöglicht eine neue Verbindung zwischen dem Selbst und der Welt von Mensch und Natur.
Heiliges Staunen und Wundern
Ja, der Verlust der Heiligkeit ist global betrachtet eines der größten Dilemmata unserer Zeit. So viele Dinge sind uns heilig – sei es der Feierabend, der Urlaub, das Auto oder der Sport. Doch steckt hinter dem Begriff „Heiligkeit“ keine radikal religiöse Dogmatik, auch keine Wissenschaftsabkehr, sondern ein Staunen und Wundern über die Schönheit und Übermenschlichkeit von Natur und Kosmos. Dort wo Tier- und Pflanzenwelt, ja selbst die Elemente, als heilig gelten, gelingt es, die Natur zu schützen. Dann werden Wälder und Bäche zu Kraftorten, Bäume zu Denkmälern und Berge wieder zu Tempeln. Es wundert mich nicht, dass Abraham, der Stammvater der monotheistischen Weltreligionen, seinen ersten Bund mit Gott unter dem nächtlichen Sternenhimmel schloss, und dass Martin Luthers reformatorische Initiation während eines überwältigenden Gewittersturms stattfand. Und so sind Glaube, Philosophie und Wissenschaft Schwestern, deren Antworten auf die Fragen des menschlichen Lebens sich wertvoll ergänzen, bedingen und aufeinander beziehen und doch immer die Natur als Dreh- und Angelpunkt ihrer Erkenntnisse konstatieren.
Die Natur im Innern finden
Eine grüne, nachhaltige und gesunde Zukunft, eine ganzheitliche Pädagogik und eine menschen- und naturnahe Medizin werden erst dann möglich, wenn wir die Natur nicht ausschließlich im Außen suchen, sezieren oder erforschen, sondern in uns selbst entdecken und lieben lernen. Dann werden wir unweigerlich zum Naturschützer, zum staunenden und kreativen Kind, zum Selbst-Heiler und zum Pilger unseres eigenen Lebensweges, der nur in Beziehung, Respekt und Verbund mit allem Seienden fruchtbringend und erfüllend sein wird.
Die Psychoanalyse beschreibt das Erleben von Allverbundenheit als „Ozeanisches Gefühl“, das wir dann erfahren, wenn unser an Sorgen, Ängste und Neurosen gefesseltes Ego zurücktritt und wir zu einem Tropfen im grenzenlosen Ozean werden. Dann wird die Wirk-lichkeit unter Eindruck von Schönheit oder Liebe so präsent, dass sich das Ego, ähnlich einem Flow-Erlebnis, auflöst. Dieser heilsame und friedenstiftende Gedanke ist kein Widerspruch zum Individualismus, denn nur in Beziehung mit anderen und zwar ohne genormte, leistungszielorientierte und wertende Ansprüche von außen, dringen wir zum Wesen-tlichen der Dinge vor und somit auch zu unserem jeweils individuellen Wesen.
So lehrt uns die berühmte Hildegard von Bingen viele hunderte Jahre vor Sigmund Freud, „solange der Mensch sich nicht selbst in den Augen und im Herzen seiner Mitmenschen begegnet, ist er auf der Flucht… letztlich sind wir hier, weil es kein Entrinnen vor uns selbst gibt“. Ja, richtig – die Veränderung der Welt findet also im Kleinen, bei uns selbst statt und so lade ich Sie hiermit dazu ein:
„Haben Sie also Mut! Haben Sie Hoffnung! Gehen Sie Risiken ein! Ziehen Sie los, und wundern Sie sich, denn die Natur liebt es, sich zu verbergen, sie macht nichts vergeblich und sie ist ein unendlich geteilter Gott. Sie können das, denn unsere Seelen sind grün!“ (Thomas Lambert Schöberl, Grüne Seelen)
Thomas Lambert Schöberl, ist Heilpraktiker mit Praxis in München, Experte für Naturheilkunde sowie Musik- und Kunstlehrer. In seinen Seminaren und Workshops bilden die Themen Natur, Kreativität und Ganzheitlichkeit den Schwerpunkt. Als studierter Musikwissenschaftler, Musikpädagoge, Kunsthistoriker und Student der evangelischen Religionslehre verwebt er spielend die Bereiche Kunst und Kultur, Glaube, Pädagogik, Natur und Medizin.
Die Schwerpunkte seiner Heilpraxis liegen auf der Untersuchung des lebenden Blutes unter dem Dunkelfeldmikroskop, der Pflanzenheilkunde und der spirituellen Lebensberatung.
www.naturheilpraxis-lambert.com
Lesetipp: Thomas Lambert Schöberl
318 Seiten, 18,95 Euro, Mankau Verlag
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