Der Virus raubt vielen Menschen die Lebensgeister. Wer sich infiziert, leidet oft noch Monate lang an einem Post-Covid-Syndrom. Viele, die bisher glimpflich davon gekommen sind, fühlen sich von aller Lebensfreude verlassen. Die Auseinandersetzungen derzeit machen viel sichtbar.
Schon vor Corona zerrte es Millionen Berufstätigen an den Nerven. Psychosoziale Erkrankungen, auch verursacht durch fehlende Menschlichkeit in der Arbeitswelt, haben enorm zugenommen. Zu Beginn der Pandemie hörte man davon weniger, jetzt aber bricht die Sinnkrise wieder hervor. Doch Krisen helfen das bisherige Leben zu hinterfragen. Du verdienst zwar recht gut deinen Lebensunterhalt, aber stehst du zu dem, was da produziert wird? Sind deine Ethik, deine Liebe und Leidenschaft, dein Spirit mit dabei? Wäre nicht gerade jetzt der richtige Zeitpunkt, eine Auszeit zu nehmen? Wie wäre es, wenn du nach Covid die Freiheit wählst, mit der sich deine Seele im Berufsleben ausdrücken möchte? Wenn du dir Zeit zur inneren Einkehr nimmst, die Lebensgeister aktivierst und deine wahre Natur in die berufliche Neuorientierung einbringst?
Wer spirituell unterwegs ist, verbindet das oft mit dem Lebensmotiv der inneren Freiheit und dem Wunsch, die eigene Berufung mit dem Beruf zu verbinden. Hannah ist so ein Beispiel. Schon seit einigen Jahren arbeitet die Kauffrau in einem großen Unternehmen als Vertragssachbearbeiterin. Spaß machte ihr die Aufgabe schon lange nicht mehr. Ihr Interesse an spirituellen Themen und alles, was sie als Mensch ausmachte, reservierte sie für ihre Freizeit. Mit Bewunderung verfolgte sie die Entscheidung einer Nachbarin, die sich ein ganzes Sabbatjahr nahm. Weil sie von sich das Selbstbild einer gewissenhaften und verantwortungsbewussten Ehefrau und Mutter hat, erlaubte sie sich keine Gedanken an eine berufliche Neuorientierung.
Dann aber kam Corona: „Die Firma präsentierte uns Mitarbeitern die Entscheidung, große Teile der Arbeit nur noch aus dem Home-Office verrichten zu lassen. Am Anfang gefiel mir das. Statt der täglichen zwei Stunden Fahrt hatte ich nun mehr Zeit für die Familie. Das wirkte für mich wie eine Befreiung vom tristen Alltag. Doch nach ein paar Monaten merkte ich, dass mir der persönliche Austausch mit meinen Kolleginnen fehlte. In meiner zunehmenden Einsamkeit spürte ich in mir den Ruf zu einer Veränderung.“
Hannah war an dem Punkt angekommen, an dem sie sich danach sehnte, beruflich etwas zu verändern. Sie wollte ein Berufsleben führen, das ihr sowohl Lebensenergie als auch Einkommen verspricht. Als sie kurz vor Weihnachten ihr Herz einer guten Freundin ausschüttete, schenkte sie ihr das Buch von Paulo Coelho über den Jakobsweg. Als sich die Corona-Krise zwischenzeitlich etwas beruhigte, beschloss Hannah, sich eine Auszeit zu nehmen und legte mit einem Fahrrad einen Teil des Jakobswegs zurück.
Auszeit für die Sinnfindung
Die erste Woche auf dem Jakobsweg war für Hannah eine große Umstellung. Immer wieder meldete sich der Zweifel und große Ängste verknüpften sich mit zermürbenden Gedanken. Diese Gedanken waren ihr wohlvertraut und gaben ihr das Gefühl, in einer Tretmühle zu stecken. Jetzt aber war sie in Bewegung und so kam sie auch zur Besinnung.
„Zunächst war mir die Stille unheimlich und die Tatsache, dass es beim Pilgern mal nur um mich selbst geht. Wann kümmerte ich mich zuletzt nur noch um mich selbst? Wann fühlte ich mich jemals mir selbst so nah? Ich wurde immer sensibler und weinte häufig. Es waren sehr viele Tränen der Dankbarkeit dabei und das brachte einiges in Bewegung. Ich führte Gespräche mit anderen Pilgern und spürte, wie wichtig mir Gemeinschaft mit anderen Menschen ist. Die Abwechslung und das Unterwegssein taten mir spürbar gut. So wurde mir bewusst, dass mein zentraler Herzenswunsch die Verbundenheit mit Menschen ist.“
In den letzten Tagen ihrer Pilgerreise wurde Hannah immer klarer, wie viel ihr Begegnungen mit neuen Menschen bedeuten. Sie notierte in ihr Tagebuch alle wichtigen Meilensteine ihres Berufslebens und die damit verbundenen großen Stärken und Eigenschaften. Sobald sie mit ihrem Optimismus und Frohsinn Menschen begegnete, entstanden neue Ideen und kreative Lösungen. In ihrer aktuellen Tätigkeit hingen war sie stets mit den gleichen Menschen zusammen. Hannah stellte am Ende ihrer Fahrrad-Auszeit fest: „Wenn man die Sinnfrage richtig stellt, braucht man nicht einen Ausstieg, um der eigenen Berufung gerecht zu werden.“
Sinnstiftende Neuorientierung
Während ihrer kurzen Pilgerschaft hat Hannah ihre Prioritäten neu gesetzt. Sie wollte fortan wieder gut mit sich selbst umgehen. Ihr war bewusst geworden, dass sie ihre Berufung finden und leben musste, wenn sie wirklich gesund und glücklich bleiben möchte.
Hannah hatte jetzt einen inneren Kompass und fand so die Zielrichtung: Sie ist eine Frau des Kundendienstes und hat viel Gespür für Kundenwünsche. Als Vertragssachbearbeiterin kannte sie sich fachlich sehr gut in ihrer Branche aus. Damit Kraft in ihr Vorhaben kommen konnte, arbeitete sie intensiv an ihren inneren Bildern. Innere Bilder erzeugen nämlich einen kraftspendenden Cocktail aus Gedanken und Gefühlen. So auch die Bilder ihrer Kindheit und Jugend, die unter anderem geprägt waren vom Beruf des Vaters, der als Reisender gerne Menschen besuchte und erfolgreiche Verhandlungen führte. Sie erinnerte sich gut daran, dass sie ihren Vater manchmal zu Ausstellungen begleitete und viel Freude daran hatte. Verkaufspsychologie, Marketing und Kommunikationstraining hatten sie schon immer interessiert. Besuchte sie einschlägige berufliche Seminare, in denen sie in der Zusammenarbeit mit Kolleginnen geschult wurde, fühlte sie sich noch Tage später heiter und motiviert. Ihre berufliche Vision war gefunden: eine Kundendienstaufgabe in ihrer Branche. Dadurch fand sie neue Energie und Entschiedenheit.
Hannah hat inzwischen die Ergebnisse ihrer Auszeit aufbereitet und ein klares Visionsmanifest geschrieben. In diesem Schreiben hat sie ihren Auszeit-Kompass manifestiert. Sie hat sich mit dem bisherigen Weg versöhnt und mit einer lebendigen Sprache das Ziel der Freude aufgezeichnet. Sie fühlt, dass es Zeit ist für eine erfüllende Neuorientierung. „Meine früheren Glaubensätze sind Gedanken von gestern. Mit einer Auszeit, die auf Besinnung, Bewegung und Begegnung setzte, habe ich meinen persönlichen Sinn gefunden. Jetzt bewerbe ich mich gezielt auf die Stellenangebote, die wirklich zu mir passen.“
Guido Ernst Hannig berät seit vielen Jahren Berufstätige. Mit vielen Denkanstößen und Übungen aus seiner Coaching-Praxis zeigt er, wie eine siebentägige Auszeit genutzt werden kann, um eigene Stärken neu zu entdecken und so zu einer klaren Vision für das weitere berufliche Leben zu finden.
Guido Ernst Hannig, Der Auszeit-Kompass
272 Seiten, 24,00 Euro, Adeo Verlag
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