Viele unserer heutigen Krisen haben ihre Ursache in einer grundlegenden spirituellen Krise: Umweltzerstörung aus Gier, Kriege aufgrund von Machtgelüsten, die Abwertung anderer aus mangelnder Toleranz, das Ignorieren von Leid, weil Mitgefühl als Schwäche wahrgenommen wird… all das lässt sich zurückführen auf ein fehlendes Gefühl für das Heilige, auf die bei manchen Menschen offenbar nicht mehr vorhandene Fähigkeit, den Wert des Lebens gewahr zu werden.
Die alten Bilder, die die keltisch geprägte Spiritualität ausmachen, mögen hier ein heilsames Gegenmittel sein – vor allem die sowohl legendenhafte wie auch historisch verbürgte Gestalt der Brigid kann uns auf die Schönheit und die Heiligkeit allen Seins verweisen und uns wieder zu einer gesunden Ehrfurcht vor der Schöpfung und allen Geschöpfen zurückführen.
Manche Menschen denken beim Thema „keltische Spiritualität“ an die vorchristliche Tradition der Druiden, die die Erde und den Jahreskreis feierten, den Elementen eine große Bedeutung beimaßen und ebenso dem Land, den Bergen, Flüssen und Seen, den grünen Hügeln und Tälern, dem Meer und der Luft, die wir atmen und mit einem jeden Lebewesen teilen. Die Welt und ihr Zauber entfalteten sich im ganz alltäglichen Leben, gaben bei allem, was geschah, einen Blick auf das Göttliche preis und waren verwoben mit allem, was existierte.
Für andere steht das keltisch-christliche Erbe im Vordergrund, das vor allem für einen Glauben steht, der Toleranz, Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Kreativität und Naturverbundenheit einen sehr hohen Stellenwert einräumte und der sich damit ganz wesentlich vom römisch-katholischen Glauben unterschied.
Brigid baut Brücken
Brigid ist Sinnbild der Verbindung, der Verknüpfung und Vernetzung dieser zwei großen Stränge menschlicher Weisheitslehren: zum einen der paganen Verehrung der Natur, in der sich Menschen mit allem, was lebt, als eine Familie fühlen, und zum anderen der keltisch-christlichen Tradition der Nächstenliebe, der kontemplativen wie praktischen Hinwendung zu allen Brüdern und Schwestern dieser Schöpfung.
Brigid ist die Flamme, die diese beiden Wege erhellt. Mit ihrer Hilfe können wir die zwei Aspekte unserer Wurzeln nicht nur sehen, sondern auch pflegen und bewässern, denn auch in uns sind heidnische wie christliche Vorstellungen lebendig. Wenn wir aus beiden Aspekten heraus genährt werden, können in uns die Samen von Liebe, Versöhnung und echter Teilhabe gedeihen. Dann entdecken wir Brigids Spuren in jeder Begegnung mit unseren Nächsten, ganz gleich ob sie Federn, Fell oder Haut haben – vor allem aber entdecken wir Brigids Spuren in unserer eigenen Seele.
Die doppelte Brigid
Wenn wir uns mit dieser faszinierenden Gestalt beschäftigen, fällt uns sehr bald auf, dass es sie offenbar zweimal gibt – und in vielen Fällen scheint es so, als seien diese zwei Gestalten klar voneinander getrennt. Da ist zum einen die Göttin, die von den Kelten vorchristlicher Zeit verehrt wurde, und zum anderen die heilige Brigida von Kildare, Tochter eines heidnischen Königs und einer christlichen Piktin, die ob ihrer Mildtätigkeit und Güte bekannt wurde. Man kann viele Geschichten erzählen, die entweder die Göttin oder die Heilige zum Inhalt haben. Doch dann gibt es auch Sagen, Berichte, Gedichte und Segenswünsche, in denen sich diese beiden Gestalten miteinander vermischen, in denen die heilige Brigida von Kildare wie die Fortführung der Göttin in einer anderen Gestalt wirkt.
Die keltische Göttin Bigid
Denn das, wofür sowohl die keltische Göttin Brigid als auch die heilige Brigida von Kildare stehen, das, was ihr jeweiliges Wesen ausdrückt, ist sich sehr ähnlich.
Als Göttin symbolisiert Brigid den weiblichen Aspekt der lebendigen Welt, die Fürsorge und das Bewahren der Schöpfung. Ihr geht es um den Einklang mit der Natur und ihren Rhythmen der Fruchtbarkeit, das Einssein mit Flüssen, Bergen und dem Wind, mit Sonne und Mond, mit Tieren und Pflanzen, wie es in den vorchristlichen Traditionen seit jeher gelebt wurde. Sich mit Brigid in ihrem Aspekt der Göttin zu beschäftigen, heißt, ganz in diese Welt, die uns umgibt, einzutauchen. Es bedeutet, am Leben in all seinen Formen teilzuhaben, sich selbst als Teil der Natur zu erkennen und sich im großen Ganzen aufgehoben zu fühlen. Wir können spüren, wie wir die Luft einatmen, die die Bäume und das Meer produzieren; wir können erleben, wie die Kraft der Erde durch unsere nackten Fußsohlen in unseren Körper strömt; wir können entdecken, welche Botschaften die Tiere, denen wir begegnen, für uns bereithalten; wir können in jedem Grashalm, in jedem Mammutbaum, in jedem sich freuenden Hund und im schimmernden Bronze der Blindschleiche das Heilige entdecken. Wenn wir uns mit all diesen Erfahrungen bewusst verbinden, spüren wir auch mehr und mehr unsere eigene Heiligkeit, unsere Zugehörigkeit zu einer Welt, deren einzelne Teile in einem unauflöslichen Knotenmuster miteinander verknüpft sind.
Brigid, die Heilige
Befassen wir uns mit Brigid in ihrem Aspekt der christlichen Heiligen, können wir in ihr die Hinwendung zum Nächsten erblicken, die Liebe und die Hilfsbereitschaft, die das eigentliche Wesen der christlichen Religion ausmachen, das Brigida von Kildare so viel bedeutet hat. In ihrer Lebensweise können wir das Gleichnis vom barmherzigen Samariter in praktischer Aktion sehen und uns davon inspirieren lassen. Und ebenso können wir in ihr und mit ihr in allen Menschen das Antlitz Gottes erkennen und das grundlegende Gutsein der gesamten Schöpfung erkennen, das sich in jedem Aspekt der natürlichen Welt zeigt. Beide Aspekte Brigids helfen uns, unseren Blick auf die Einheit aller Wesen auszurichten.
Der Mantel des Mitgefühls
Die heidnische Göttin Brigid versammelt alle Tiere und Menschen unter ihrem schützenden Mantel – ihr Mitgefühl ist so groß, dass alle darunter Platz finden und sozusagen vom Leben selbst getragen und behütet werden. Das große Grün der Wälder und Hügel, durchwoben mit dem silbernen Glitzern der Flüsse und Bäche, überspannt vom weiten Blau des Himmels – all das ist das Gewebe von Brigids Mantel.
Und für die heilige Brigida von Kildare war dieser pagane Glauben noch sehr lebendig, auch wenn sie selbst Christin war. Es gab für sie keinen Bruch mit dem Land, die Natur wurde für sie aufgrund ihres christlichen Bekenntnisses nicht zur Bedrohung. Auch sie breitete ihren Mantel über das Land aus, hüllte alle Wesen (und nicht nur Menschen) darin ein und fühlte sich auch selbst gemeinsam mit ihren Brüdern und Schwestern dort geborgen. Sie sah im christlichen Schöpfungsgedanken keinen Widerspruch zum alten Glauben ihres Volkes, sondern betrachtete ihn eher als Fortführung eines Gedankens, der zwar philosophischer und vergeistigter anmutete, aber dennoch nicht in Missachtung der natürlichen Zusammenhänge des Lebens umschlug (wie er das in späteren Zeiten des römisch-katholischen Christentums leider allzu oft tat).
Brigid verkörpert göttliche Liebe
Die Schöpfung – ganz gleich, ob christlich oder naturreligiös verstanden – war für sie der Ort, an dem sich das Göttliche offenbarte. Im Lachs fand sich weiterhin ein Symbol der Weisheit, im Eber ein Symbol der Stärke, in der Hirschkuh ein Symbol der Reinheit – und alle fanden sich unter dem einen großen Mantel ein, wurden dort zusammengeführt und in ihrer Heiligkeit vereint. Hier war alles miteinander verbunden, ganz so, wie es sowohl die heidnische Göttin als auch der christliche Gott erdacht und eingerichtet hatten: eine Einheit des Lebendigen, ein Kreis, in dem auch der Mensch aufgehoben war.
Wenn wir uns dieses Bild vor Augen halten, können wir uns vielleicht wieder darauf besinnen, dass wir alle Brüder und Schwestern sind, dass wir zusammengehören und gemeinsam mit dem Land unter unseren Füßen eine Einheit bilden, in der ausnahmslos alles wertvoll ist. Vielleicht kann diese Sichtweise wieder unsere Herzen öffnen und die Ursache vieler Krisen in eine längst überfällige Heilung führen.
Jennie Appel und Dirk Grosser leben und arbeiten gemeinsam im schönen Kalletal, geben einzeln und zusammen Kurse an verschiedenen Orten sowie online in ihrem Sacred Web. In ihrer Arbeit finden sich stets starke Bezüge zur Natur, die ihnen beiden sehr am Herzen liegt, und zu alten naturspirituellen Traditionen, die sie für unsere Zeit neu interpretieren. Sie sind bekannt für ihre bodenständige und stets humorvolle Art der Wissensvermittlung sowie ihre warmherzige und kompetente Begleitung in spirituellen Prozessen.
Ihr Buch „Brigid – Entfache die Flamme einer Heiligen, Göttin & Druidin in dir“ ist gerade in einer Neuausgabe im Aurum Verlag erschienen.
Jenny Appel & Dirk Grosser
Brigid – Entfache die Flamme einer Heiligen, Göttin & Druidin in dir
176 Seiten, 20,00 Euro
Aurum Verlag
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