Stress abbauen – Sieben Tipps, um Stressreflexe somatisch klug abzubauen
Fight, Flight oder Freeze
Wenn wir Menschen uns in Gefahrensituationen befinden oder vor Herausforderungen stehen, versetzt uns das zentrale Nervensystem in einen Alarmzustand, der mit entsprechenden Schutzreaktionen verbunden ist. Diese Vorgänge stammen von unseren Vorfahren, die sich für den Überlebenskampf rüsten mussten, der damals tatsächlich noch einer war. Je nach Situation entschieden sie sich fürs Angreifen, Weglaufen, Zurückziehen oder Erstarren. Genau: Fight, Flight oder Freeze. Mit diesen Vorgängen beschäftigt sich sowohl die Stress- und Traumaforschung als auch die Neurowissenschaft seit einigen Jahren besonders intensiv. Man fand heraus, dass dieselben Reaktionen im menschlichen Organismus, wenn wir unter Stress stehen oder unsere Sicherheit gefährdet ist, immer noch ablaufen. Das fehlende Stress abbauen hat anhaltende gesundheitliche Folgen hat.
Wenn ich hier vom „inneren Bodyguard” schreibe, steht dieser als Synonym für diese Schutzreaktionen, die auch unter den Begriffen Stress-, Trauma- oder Survivalreflex bekannt sind.
Die innere Zwickmühle
Normalerweise ziehen sich diese reflexhaften Schutzmechanismen auch wieder zurück, sobald die Gefahr oder Herausforderung vorüber ist, sodass sich die erhöhte Muskelspannung, das Herzrasen, die flache Atmung und die Einwirkung der Stresshormone wieder beruhigen, der Stress kann abgebaut werden. Doch hier beginnen sich die Vorgänge in unserem Körper oftmals zu verkomplizieren – und zwar aus zwei Gründen:
- Stress abbauen kann nur gelingen, wenn wir uns in der Phase der Erholung nicht schon wieder neuen Herausforderungen und „Bedrohungen” zu stellen haben. Dann werden die Stressreaktionen nur teilweise zurückgefahren, sodass ein Überhang bleibt und sich der neue Stress sozusagen auf den alten draufsetzt. Es entsteht das Gefühl, dass wir aus der Stressmühle oder dem Hamsterrad nie wirklich herauskommen. Es gelingt uns nicht, das zentrale Nervensystem zu einem Nullpunkt zurückzuführen.
- Da unser Gehirn als Kommandozentrale des zentralen Nervensystems durch Erfahrungen lernt, behält es bei der wiederholten Einwirkung von Stressreizen einen Teil dieser Reaktionsmechanismen bei, sodass es beim nächsten Mal auf Angriffe von außen noch besser vorbereitet ist. Das heißt, dass der „innere Bodyguard” wach bleibt und immer auf dem Sprung, also reaktionsbereit ist.
Die Folgen
Und das hat Folgen. Selbst wenn nur ein Teil der Schutzreaktionen aktiv bleibt, verursachen sie dauerhafte Muskelspannungen, die die natürliche Funktionsweise unseres Organismus beeinträchtigen und auf Dauer zu chronischen Verspannungen führen. Diese münden dann in Folgesymptomen wie Schmerzen aller Art, den typischen chronischen Syndromen wie das Lumbal-, Zervikal-, Karpaltunnel- oder Schulter-Arm-Syndrom, oder Fibromyalgie, Herz- und Atembeschwerden, Nacken-, Kiefer- und Gelenksteife, Zähneknirschen, Nervenschmerzen und Lähmungen, um nur einige zu nennen.
Seelische Probleme folgen dem auf den Fuß. Emotionale Achterbahnfahrten, Stimmungsschwankungen, depressive Phasen, ein beständiger innerer Druck und das Gefühl, das Leben nicht meistern zu können, sind genauso typisch wie der Umstand, dass sich die Betreffenden oft als müde, erschöpft und zu wenig belastbar erleben. Die Schutzreflexe unentwegt aufrechtzuerhalten frisst unsere Lebensenergie und kostet viel Kraft. Stress abbauen wird langwierig und ungenügend.
So hangeln sich viele Menschen von einem Wochenende zum nächsten und erholen sich selbst im Urlaub nur unvollständig. Viele von ihnen haben das Gefühl, dass eine grundsätzliche Anspannung in ihnen sitzt, die sie nie ablegen, egal was sie versuchen.
Weg vom „GEGEN…”!
Was also tun? Mit der Intention, diese innere Anspannung, die Schmerzen und Diagnosen zu revidieren, wird dann zumeist gegen diese vorgegangen. Doch das ist aus somatischer Sicht nicht sinnvoll. Wenn die bestehende Situation durch die Schutzreflexe verursacht worden ist, würde das den verkehrten Impuls ans zentrale Nervensystem senden und in diesem keinesfalls für eine Beruhigung sorgen.
Um hier Verbesserung zu erreichen, muss die Situation im Organismus verstanden werden. Der Körper hat ja zu keinem Zeitpunkt etwas Verkehrtes gemacht. Er ist einfach seinem evolutionären Erbe gefolgt und hat diesen Survivalmechanismus im Organismus zu unserem Schutz installiert. Das heißt, dass die Idee vom „gegen“, also von allen Gegenmaßnahmen gegen die Symptome erst einmal entkräftet werden muss. Alles „Gegen“ würde in unserem zentralen Nervensystem ja nur einen Konflikt verursachen und zu noch mehr Anspannung führen. Aus somatischer Sicht ist es deshalb sinnvoller, die Folgen der Stressreflexe im Einklang mit dem Organismus, also in Teamarbeit mit ihm abzubauen.
Sieben Tipps, um die Stressreflexe aufzulösen
In meinem neuen Buch „Der innere Bodyguard. Selbstschutz als Schlüssel zur Selbsthilfe” bin ich auf sieben essenzielle Schritte eingegangen, die uns helfen, vorhandenen Stressreflexen aus einer inneren Perspektive zu begegnen und den Organismus zu unterstützen.
- Wachheit und Körperbewusstsein entwickeln: Generell ist es hilfreich, ein grundlegendes Körperbewusstsein zu entwickeln, weil uns ein solches erst dazu befähigt zu spüren, welche Bedürfnisse unser Körper hat, wenn er müde, erschöpft oder erregt ist oder unter Druck steht. Es geht also zunächst erst einmal um das „Erkennen, dass …” und zwar so früh wie möglich. Je früher wir spüren können, wenn sich eine Situation in eine grenzwertige verwandelt, können viele stressbedingte Folgen sogar vermieden und noch in ihren Anfängen zurückgefahren werden.
- Urteilsfrei bleiben. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, das im Körper Wahrgenommene als bloße Beobachtung stehenzulassen. Wir kommentieren die ausgelöste Stressreaktion maximal mit einem neutralen „Aha!”, also: „Aha, da ist sie wieder, die innere Anspannung…, der Nackenschmerz, das Herzrasen, der Druck im Kopf, das Anhalten des Atems… oder das Gefühl, dass nichts mehr geht. Aber wir be- und verurteilen es nicht!
- Mit dem Geschehen MITgehen: Aus somatischer Sicht ist es wesentlich sinnvoller, wenn wir mit den inneren Vorgängen bewusst mitgehen, weil wir das einmal in Gang gesetzte große Rad, das unser Organismus ist, weder ausbremsen noch anhalten können. Also schwimmen wir mit dem Flow und eilen, hasten, zittern und erstarren mit unserem Körper – bewusst! – mit. Indem wir auf einen inneren Kampf bewusst verzichten und die Situation anerkennen, kommt es zu einer sofortigen positiven Veränderung des Geschehens.
- Den Körper unterstützen: Wir können unseren Körper in solchen kritischen Momenten außerdem unterstützen, indem wir inneren Stress in Bewegung transferieren: Wir können zügig gehen, Treppen steigen, auf- und abspringen, auf der Stelle oder im Freien joggen, tanzen, mit dem Oberkörper pendeln, uns schütteln oder ganz spontan und intuitiv bewegen. Musik kann uns dabei gut unterstützen.
- Dem Körper ein Ventil anbieten: Wenn die innere Drucksituation überhandnimmt, können wir dem Körper auch ein Ventil anbieten, damit die Anspannung nicht ins Körperinnere gedrückt wird. Das heißt, dass wir uns je nach Stressstärke und aufgeladener Hitze ausladender und expressiver bewegen, betonter ausatmen, vielleicht auch die Fäuste ballen, in die Luft boxen, Grimassen schneiden, fluchen, weinen, lachen oder stampfen, ein Kissen kneten, ein Duschtuch würgen, auf die Bettmatratze eintrommeln oder uns mit einem Sandsack duellieren. Aber das machen wir nicht, um die Erregung zu vertreiben. Vielmehr bieten wir unserem Organismus an, den Druck aus dem System zu entlassen. Wir helfen ihm beim Dampfablassen und Stess abbauen.
- Stress zu 100 Prozent herunterfahren: Wenn Stress oder grenzwertige Gefährdungssituationen unvermeidbar sind, ist es wichtig, dass wir die Stressreaktionen vollständig, ja hundertprozentig abbauen. Aus somatischer Sicht heißt das, dem Körper so lange eine Extraportion Selfcare zu schenken, bis er signalisiert, dass er wieder startklar und einsatzfähig ist.
- Die Stresslevel überprüfen: Diese beschriebenen Maßnahmen zum Stressabbau zahlen sich allerdings nur dann aus, wenn wir uns nicht permanent neuen oder permanenten Stressoren aussetzen. Und da kann es sinnvoll sein, das eigene Arbeits- und Lebensdesign abzuklopfen. Heißt: Gibt mein gewählter Lebensstil, mein Beruf, meine Arbeit, meine private Situation und die damit verbundene Gesamtbelastung überhaupt her, dass sich an dem inneren Alarmzustand etwas verändern kann? Hier heißt es, wirklich ehrlich zu sich selbst zu sein.
Gesund ist, wenn wir die eigene Lebensweise so gestalten, dass sich unser Organismus entsprechend seiner natürlichen Funktionsweise selbst ganz leicht ausbalancieren kann und gar nicht erst im Minusbereich operieren muss. Genau darauf fokussieren wir.
Katrin Jonas ist eine international tätige BodyWareness-Trainerin, Expertin auf dem Gebiet des Körperbewusstseins, außerdem Feldenkraislehrerin, Hypnosetherapeutin, Meditationsmentorin und Erfolgsautorin mehrerer Bücher. Sie unterstützt Klienten und Trainees dabei, die Kraft des Körperbewusstseins zur nachhaltigen Regeneration zu nutzen. Mit Passion gibt sie ihren Erfahrungsschatz aus über 25 Jahren Praxis in BodyWareness-Trainings für Therapeuten, Ärzte und Coaches weiter. Katrin lebt in London, hat eine Tochter und liebt das Leben.
Katrin Jonas: Der innere Bodygard
176 Seiten, 20,00 Euro
Innenwelt Verlag
Einen interessanten Artikel von Caroline Ebert zum Thema, wie Stress die Sehkraft beeinflusst, finden Sie hier!
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